Gutachten

Dem Fachkräftemangel entgegenwirken

Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigt und damit auch der Bedarf an entsprechenden Fachkräften. Ein im November veröffentlichtes Gutachten zum „Fachkräftebedarf im Gesundheits- und Sozialwesen 2030“, im Auftrag des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, geht davon aus, dass im Jahr 2030 rund 1,3 Millionen Vollkräfte im Gesundheitswesen fehlen werden. Wie lässt sich diese Erwerbstätigenlücke vermindern?

Die demografische Entwicklung in Deutschland wird in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach einerseits zu einer steigenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und andererseits zu einer Reduktion des Erwerbskräftepotenzials führen. Denn gerade Anfang der 2020er-Jahre werden die ersten geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Personal dürfte also knapper werden. Demnach findet eine gegenläufige Entwicklung statt (siehe Abb. 1). Aufgrund der rückläufigen Anzahl an Erwerbstätigen dürften gleichzeitig die Ressourcen der Krankenkassen weniger stark wachsen als in der Vergangenheit.

Infografik: Demografische Entwicklung bis 2040

Rückblickend hat die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland zwischen 1991 und 2017 dagegen stark zugenommen, insbesondere bei Frauen und älteren Menschen. Der beobachtete Zuwachs der Erwerbstätigenzahl in der Gesamtwirtschaft kann zu einem großen Teil dem Gesundheits- und Sozialwesen zugeschrieben werden. Auch der Anteil der im Gesundheits- und Sozialwesen geleisteten Arbeitsstunden an allen Arbeitsstunden in der Gesamtwirtschaft ist dabei stark gewachsen von 7,9 Prozent im Jahr 1991 auf 12,3 Prozent im Jahr 2015. Offen ist, ob sich die für das Gesundheits- und Sozialwesen bislang so günstige Entwicklung halten lassen wird, wenn die Anzahl an erwerbsfähigen Menschen in Deutschland bestenfalls konstant bleiben wird.

Tatsächlich zeichnet sich bereits heute ein Personalengpass im Gesundheits- und Sozialwesen ab, und erstmals sind hier in jüngster Vergangenheit die Löhne stärker als in anderen Branchen gestiegen. Allerdings sind die Preise für Gesundheitsleistungen oftmals staatlich reguliert und bieten damit keine ausreichende Flexibilität, um ein steigendes Lohnniveau in den Preisen abbilden zu können. Infolgedessen kann es im Gesundheits- und Sozialwesen grundsätzlich zu einer Rationierung der Arbeitsnachfrage kommen. Zu Bereichen mit besonders hohem Fachkräftebedarf und -engpässen dürften Bereiche des Gesundheitswesens mit ausgeprägter Preisregulierung gehören, darunter das Krankenhauswesen, die Altenpflege und die vertragsärztliche Versorgung.

Prognose

Vor diesem Hintergrund rechnen wir den zukünftigen Fachkräftebedarf und das Fachkräfteangebot im Gesundheits- und Sozialwesen hoch und leiten Handlungsoptionen zur Schließung der erwarteten Fachkräftelücke ab. Die Hochrechnungen fußen auf einem statischen Modell, das seinerseits auf Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung beruht. Bei einfacher Fortschreibung des Status quo und der vergangenen Trends gehen wir davon aus, dass bis zum Jahr 2030 die Nachfrage nach Fachkräften im Gesundheits- und Sozialwesen um etwa 800.000 steigen wird und dann mit 4,9 Millionen Vollkräften um 1,3 Millionen Vollkräfte höher liegen wird als das verfügbare Angebot. Dabei wurden bereits die gesetzlichen Vorgaben zur schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre berücksichtigt.

Die Variation von zentralen Steuergrößen im Modell erlaubt konkrete Einschätzungen zur Größenordnung ihres möglichen Beitrags zur Schließung der erwarteten Fachkräftelücke (siehe Abb. 2). Wir sind verhalten optimistisch, dass sich diese ermittelte Fachkräftelücke vollständig schließen lässt. Um dies zu erreichen, müssen jedoch Politik und Gesellschaft die Bereitschaft zu größeren Veränderungen aufbringen.

Infografik: Reduktion der Fachkräftelücke

Erwerbstätigenquote in der Gesamtwirtschaft

Einen großen Beitrag zur Schließung der Fachkräftelücke im Gesundheits- und Sozialwesen kann eine weiter steigende Erwerbstätigenquote in der Gesamtwirtschaft leisten. Würde sie um etwa vier Prozentpunkte steigen, könnte die Fachkräftelücke im Gesundheits- und Sozialwesen um nahezu 200.000 Vollkräfte vermindert werden. Ein weiteres Potenzial bietet die Beschäftigung von älteren Menschen, die zahlenmäßig immer mehr werden. Die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters ist bereits seit vielen Jahren Gesetz. Wichtig ist jedoch, diese nicht durch Anreize zur Frühverrentung zu unterlaufen, sondern eine Reduktion des Anteils der Frührentner anzustreben. Dadurch könnten rund 50.000 weitere Vollkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen aktiviert werden.

Einflussgrößen im Gesundheits- und Sozialwesen

Geeignete Maßnahmen sollten außerdem das Nachfragewachstum im Gesundheits- und Sozialwesen bremsen. Eine Halbierung des in der Vergangenheit beobachteten Nachfragewachstums pro Kopf von 1,15 Prozent pro Jahr würde den Fachkräftebedarf um etwa 400.000 Vollkräfte reduzieren. Neben strukturellen Änderungen aufseiten der Leistungserbringer und an den bestehenden Vergütungssystemen, insbesondere zur Erreichung einer sektorenübergreifenden Versorgung, gehören auch eine bessere Koordination der Gesundheitsversorgung, eine effektivere Patientensteuerung und gegebenenfalls steuerungswirksame Zuzahlungen für Patienten. Arbeitssparende innovative Technologien können ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten. Genannt seien hier Digitalisierung, Robotik, Sensorik und insbesondere eine für die gesamte Bevölkerung gültige elektronische Patientenakte. Geeignete neue Spielregeln für die gemeinsame Selbstverwaltung im Gesundheitswesen könnten die dazu nötige größere Innovationsoffenheit fördern.

Ferner sind Maßnahmen nötig, die das Arbeitsangebot ausweiten. Produktivitätsfortschritt im Rest der Wirtschaft kann dort den Arbeitskräftebedarf senken und damit den für das Gesundheits- und Sozialwesen zur Verfügung stehenden Bestand an potenziellen Arbeitskräften erhöhen. Wenn es gelingt, den Anteil der im Gesundheits- und Sozialwesen beschäftigten Erwerbstätigen von derzeit 14,7 Prozent auf 15,5 Prozent zu erhöhen, ließe sich die Fachkräftelücke um etwa 200.000 Vollkräfte senken. Dazu müssen künftige Schulabgänger deutlich stärker als heute für das Gesundheits- und Sozialwesen begeistert werden. Um die Zahl der Neueinsteiger in das Gesundheitswesen zu erhöhen, sollte zum Beispiel Schulgeld für Gesundheitsberufe entfallen.

Darüber hinaus ist der Bestand an Fachkräften im Gesundheits- und Sozialwesen künftig in erheblich stärkerem Ausmaß zu aktivieren. Flexible Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Wiedereinstiegsprogramme können die berufliche Rückkehr nach einer Auszeit erleichtern und helfen, neue fachliche Kenntnisse zu erlernen oder Vertrauen in die eigenen Kenntnisse zu stärken. Ein erhebliches Potenzial bietet die große Anzahl an Teilzeitbeschäftigten gerade im Gesundheits- und Sozialwesen. Um diese zu motivieren, ihr Arbeitsangebot auszuweiten, müssten Gesundheitsberufe attraktiver werden, insbesondere der Pflegeberuf. Neben dem Lohnniveau ist dabei eine inhaltliche Aufwertung der Pflege wesentlich: mehr Übernahme von Verantwortung in der Versorgung und größere Entscheidungsspielräume. Eine stärkere Akademisierung der Pflege könnte dieses Ziel unterstützen, wenn damit auch ein Mehrwert für die Versorgung einherginge. Bei Fortschreibung des bisherigen Trends würde bis 2030 eine erwerbstätige Person die Leistung von 66,5 Prozent einer Vollkraft erbringen. Wenn es gelingt, diesen Wert auf 70,7 Prozent zu steigern, kann die Fachkräftelücke um mehr als 240.000 Vollkräfte reduziert werden. Eine Absenkung des Krankenstandes im Gesundheits- und Sozialwesen von 5,8 Prozent auf den Durchschnitt aller Branchen von 5,3 Prozent hat dagegen eine vergleichsweise geringe Wirkung auf die Personallücke.

Zuwanderungsgesetz auf den Weg bringen

Schließlich sollte die Politik Rahmenbedingungen schaffen, um ausländische Fachkräfte für Deutschland zu gewinnen, insbesondere aus großen Ländern mit einer günstigen Bevölkerungsstruktur. Dazu sollte ein modernes Zuwanderungsgesetz auf den Weg gebracht werden, das weltweit jungen Menschen mit geeigneten Voraussetzungen aus Ländern mit einer günstigen Bevölkerungsstruktur das Angebot macht, legal nach Deutschland einwandern zu können. Eine um fast 180.000 Vollkräfte gesteigerte Zuwanderung bis 2030 könnte zusammen mit den anderen genannten Veränderungen die erwartete Fachkräftelücke von 1,3 Millionen Vollkräften schließen.

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