Es ist das große Versorgungsgesetz des Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU). Nach einem Pflegestärkungsgesetz und der Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zum 1. Januar 2019 nimmt sich Spahn jetzt mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) die ärztliche Versorgung vor. Das Gesetz soll zum 1. Mai in Kraft treten.
Mit dem TSVG packt Spahn „heiße Eisen“ wie die Wartezeitenproblematik in den Arztpraxen an. Es enthält daneben viele wichtige Regelungen unabhängig von der ärztlichen Versorgung („Omnibusgesetz“). Zur Wahrheit gehört aber auch: Mit dem TSVG wird mit knapp zwei Milliarden Euro jährlichen Mehrausgaben ein weiteres teures Gesetz verabschiedet. Nachfolgend werden die Schwerpunkte vorgestellt.
Terminservicestellen, Sprechstundenzeiten, extrabudgetäre Vergütung:
Patienten sollen schneller einen Termin beim (Fach-)Arzt bekommen. Dazu werden die Terminservicestellen zu „Servicestellen für ambulante Versorgung und Notfälle weiterentwickelt“. Die schnelle Verfügbarkeit von Facharztterminen in medizinisch indizierten Fällen ist ein wichtiges Kriterium für eine funktionierende vertragsärztliche Versorgung. Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) arbeiteten oft nicht optimal. Künftig soll nicht nur zur fachärztlichen Behandlung vermittelt werden; Termine sollen auch für Besuche bei Haus- und Kinderärzten sowie, unter bestimmten Bedingungen, auch für die Akutbehandlung gemacht werden können.
Insbesondere die vorgesehene Vermittlung bei Akutfällen auf Grundlage eines bundesweit einheitlichen, standardisierten telefonischen Ersteinschätzungsverfahrens ist ein erster wichtiger und zentraler Schritt zu einer verbesserten Patientensteuerung. Auf diese Weise können Patienten entsprechend ihres medizinischen Bedarfs zielgenauer in die geeignete Versorgungsebene geführt werden. Die gesetzliche Festlegung, dass die Wartezeit auf eine psychotherapeutische Akutbehandlung zwei Wochen nicht überschreiten darf, wird vom Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) ebenfalls begrüßt. Einen wirksamen Mechanismus, wie die Bevorzugung von Privatpatienten in den Arztpraxen unterbunden werden kann, enthält der Gesetzentwurf leider nicht.
Mit dem TSVG sollen auch die Mindestsprechstundenzeiten für Ärzte von 20 auf 25 Stunden in der Woche heraufgesetzt werden. Viele Ärzte arbeiten heute schon länger, insofern ist die Aufregung darüber in Ärztekreisen nicht nachvollziehbar. Fünf Stunden sind in der wohnortnahen Versorgung als offene Sprechstunde anzubieten. Diese Zeiten sind zu veröffentlichen und über das Internet nutzerfreundlich und digital per App/Online-Angebot transparent zu machen. Diese Maßnahmen setzen den notwendigen Impuls, damit aus den Terminservicestellen künftig wertvolle Vermittlungseinrichtungen werden können.
Vorgesehen ist, dass vieles, was heute bei der Terminvergabe und den Sprechstundenzeiten Selbstverständlichkeit in Arztpraxen ist, in Zukunft extrabudgetär vergütet werden soll. Es wäre richtiger gewesen, das zusätzliche Geld an die tatsächlichen Mehrleistungen, die im Zuge des Gesetzes entstehen, zu knüpfen.
Medizinische Versorgungszentren:
In unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Gebieten sollen künftig auch anerkannte Praxisnetze medizinische Versorgungszentren (MVZ) gründen können. MVZ stellen moderne Versorgungseinrichtungen dar, die aufgrund ihrer modernen Organisationsformen attraktive Arbeitsplätze für junge Mediziner bieten und damit eine Antwort auf ärztliche Sicherstellungsprobleme geben. Diese Möglichkeit müsste deshalb nach Ansicht des vdek nicht nur auf unterversorgte Gebiete beschränkt bleiben, so wie es der Gesetzentwurf vorsieht. Das TSVG will auch Fehlentwicklungen, die zu einem zunehmenden Einfluss von Kapitalinvestoren geführt haben, zurückdrängen. Hier hätte die Regierung beherzter vorgehen können. Nur durch eine klare räumliche wie fachliche Beschränkung der Gründereigenschaft kann verhindert werden, dass reine Kapitalinvestoren durch die Übernahme eines Krankenhauses bundesweite MVZ-Gruppen allein mit Schwerpunkt auf renditestarke Leistungen gründen und wichtige Versorgungsaufgaben vernachlässigen. Dies gilt insbesondere auch für MVZ in der zahnmedizinischen Versorgung.
Kodierrichtlinien:
Begrüßt werden die Regelungen zur Einführung ambulanter Kodierrichtlinien. Dies fordert der vdek seit Längerem, um die Qualität der ambulanten Diagnosen zu sichern. Eine qualitativ hochwertige Kodierung ist die Voraussetzung, um Diagnosen für die Berechnung der Morbidität im Risikostrukturausgleich (RSA) und in der vertragsärztlichen Versorgung nutzen zu können. Positiv ist, dass die einzusetzende Praxissoftware zur Umsetzung der Richtlinien – auch bei Selektivverträgen - von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zu zertifizieren ist.
Strukturfonds und Sicherstellungszuschläge:
Mit dem TSVG wird auch die Einrichtung von Strukturfonds in allen Regionen obligatorisch. Die Mittel, welche die Krankenkassen dafür den KV bereitstellen, werden auf 0,2 Prozent der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung verdoppelt. Die bisherige Regelung, über Strukturfonds auf regionaler Ebene zu entscheiden, hat sich nach Ansicht des vdek bewährt. Das Gleiche gilt für die regionalen Zuschläge, welche die Kassen zur Sicherstellung der Versorgung zahlen können. Mit der obligatorischen Anwendung von Sicherstellungsinstrumenten „nach dem Gießkannenprinzip“ läuft man eher Gefahr, bestehende Versorgungsdisparitäten zu vergrößern. Gut ist, dass die Gelder des Strukturfonds nun auch für den Aufkauf von Praxissitzen verwendet werden können. Hier müssen die Krankenkassen mitentscheiden dürfen: Nur dann kann sichergestellt werden, dass die KV ihren Verpflichtungen im Bereich des Abbaus von Überversorgung durch den Aufkauf von Praxissitzen in Ballungsräumen nachkommen.
Mitgestaltungsrecht der Länder/Bedarfsplanung:
Über verkürzte Fristen wird bei der bevorstehenden Anpassung der Bedarfsplanungsrichtlinie auf das Tempo gedrückt. Bis Mitte dieses Jahres sollen die Beratungen abgeschlossen sein. Für Rheumatologen, Psychiater und Pädiater werden etwaige bestehende Zulassungsbeschränkungen bis dahin aufgehoben. In ländlichen und strukturschwachen Teilgebieten entfallen Zulassungssperren generell. Die Bestimmung dieser Gebiete obliegt den Ländern, die zudem in den Zulassungsausschüssen künftig beratend und antragstellend mitwirken können.
Das wirkt auf den ersten Blick nachvollziehbar, dennoch sollte grundsätzlich die Umsetzung der Bedarfsplanung den bisherigen Parteien überlassen bleiben. Antragstellungen außerhalb der gewachsenen Strukturen verführen dazu, aus bloßen politischen Erwägungen heraus Versorgungskapazitäten zu schaffen; und zwar auch in schon überversorgten Bereichen. Das alles muss letztlich auch finanziert werden.
Digitalisierung im Gesundheitswesen:
Wesentlich im Gesetzentwurf sind die Regelungen zur Digitalisierung. Spätestens ab 2021 haben die Krankenkassen für ihre Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) bereitzustellen. Zusätzliche digitale Anwendungen, wie Patiententagebücher oder Aufzeichnungen aus Fitnesstrackern, können in den Patientenakten angeboten werden. Über die elektronische Gesundheitskarte (eGK) hinaus soll auch der mobile Zugriff über das Handy oder ein Tablet ermöglicht werden. Das alles ist gut, leider aber mit Fristen für die Krankenkassen unterlegt, die sehr ambitioniert sind. Sie sollen zudem mit Sanktionen belegt werden, was problematisch ist. Denn die Krankenkassen können Verzögerungen, beispielsweise durch die Industrie, nicht verhindern und haben sie auch nicht zu vertreten. Hier wäre mehr Realitätsnähe wünschenswert gewesen.
Mit dem TSVG wird auch ein elektronisches Antragsverfahren für bewilligungspflichtige zahnärztliche Leistungen vorgesehen. Nach Meinung des vdek sollte in diesem Zuge auch das Bonusheft digitalisiert werden. Elektronische Anträge für Zahnersatz und ein papiergebundenes Bonusheft passen nicht zusammen.
Positiv hervorzuheben ist, dass ab dem Jahr 2021 ein einheitliches, verbindliches elektronisches Verfahren zur Übermittlung von Arbeitsunfähigkeitsdaten von Ärzten an die Krankenkassen eingeführt werden soll. Der Vollständigkeit halber sollten die Arbeitgeber – unter Nutzung des Datenaustauschverfahrens und Wahrung des Datenschutzes – in die Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten einbezogen werden. Pläne aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), die Bundesregierung zum Mehrheitsgesellschafter der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) zu machen, gehen allerdings zu weit und greifen tief in die Gestaltungskompetenz der gemeinsamen Selbstverwaltung ein. Letztlich müsste das BMG als zuständige Rechtsaufsichtsbehörde über ihre eigene Geschäftstätigkeit in der gematik die Aufsicht führen. Das wäre paradox.
Heilmittel:
Über bundesweite, gemeinsame und einheitliche Versorgungsverträge zwischen dem GKV-Spitzenverband und den maßgeblichen Verbänden der Heilmittelerbringer soll ab dem Jahr 2020 die Versorgung mit Heilmittelleistungen geregelt werden. Übergangsweise soll nach dem Inkrafttreten im Jahr 2019 bundesweit für jede Krankenkasse und für jede Leistungsposition der höchste von einer Krankenkasse bereits vereinbarte Preis gelten. Damit wird das Preisniveau in einem Schritt auf ein Höchstniveau gehoben. Regionale Preisverhandlungen werden abgeschafft. Die Grundlohnsummenanbindung entfällt dauerhaft.
Diese Änderungen sind vergütungstechnisch unnötig und vertragspolitisch kontraproduktiv. Zudem führen die Vergütungserhöhungen ohne weitere flankierende Regelungen nur zu Mehreinnahmen der Praxisinhaber und nicht ihrer angestellten Therapeuten. Gesetzliche Klarstellungen zum Nachweis der Gehälter wären geboten, stehen aber aus.
Des Weiteren soll das als Verwaltungsakt ausgestaltete Zulassungsverfahren von Leistungserbringern durch einen bloßen Beitritt zu einem bundesweiten Rahmenvertrag ersetzt werden. Das Zulassungsverfahren für Leistungserbringer funktioniert gut und trägt maßgeblich zur Strukturqualität in der Heilmittelversorgung bei. Der vdek setzt sich deshalb dafür ein, dieses Verfahren beizubehalten. Um bürokratische Aufwände sowohl auf Seiten der Heilmittelerbringer als auch der Krankenkassen zu vermindern, sollte sich künftig ein Therapeut aber nur noch an eine Zulassungsstelle wenden müssen.
Hilfsmittel:
Die Versorgung im Hilfsmittelbereich wurde bisher über Beitritts-, Einzel- und Rahmenverträge sowie auch über Ausschreibungen sichergestellt. Künftig sollen die Ausschreibungen entfallen. Damit stünde eine wichtige Möglichkeit der Vertragsanbahnung nicht mehr zur Verfügung.
In der Vergangenheit haben immer wieder Hersteller, trotz klarer Qualitätsvorgaben, in den Ausschreibungen nicht die geforderte Qualität geliefert und hohe Aufzahlungen von den Versicherten gefordert. Diesem inakzeptablen Verhalten hätte durch eine Verschärfung der Ausschreibungsregelungen begegnet werden können. Das mit dem TSVG nunmehr beabsichtigte Verbot der Ausschreibungen für Hilfsmittel hält der vdek für zu weitgehend. Ferner soll die Beitrittsmöglichkeit zu bestehenden Verträgen um eine Verhandlungsoption erweitert werden. Der Gesetzesvorschlag ist in sich widersprüchlich und führt praktisch zu einer unendlichen Verhandlungsspirale, an deren Ende ein völlig intransparenter Vertragsmarkt stünde. Hier ist erneutes Nachdenken angezeigt.
Leistungsrecht/Zahnersatz:
Eine Reihe von leistungsrechtlichen Neuregelungen durchziehen das neue Gesetz. Hier seien prominent nur die zahnmedizinischen Leistungsregelungen erwähnt. Zum einen sollen in Anlehnung an die Mehrkostenregelung für Zahnfüllungen auch im kieferorthopädischen Versorgungsbereich Mehr- und Zusatzleistungen wählbar sein, ohne den Anspruch auf die vergleichbare Sachleistung zu verlieren. Zum anderen wird ab dem Jahr 2021 der Anspruch der Versicherten auf Festzuschüsse bei der Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen um zehn Prozent auf generell 60 Prozent der Kosten für die Regelversorgung erhöht. Die Bonuszuschläge für die nachgewiesene regelmäßige Zahnpflege erhöhen sich konsequent auf 70 bzw. 75 Prozent. Nach Ansicht des vdek sollten begleitend Verpflichtungen geschaffen werden, den vollständigen Behandlungsplan hinsichtlich seiner vertrags- und privatzahnärztlichen und zahntechnischen Leistungen durch die Krankenkasse prüfen zu lassen, damit die Versorgung für die Versicherten nicht nur teurer, sondern auch besser wird.
Methodenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA):
Weitreichende Änderungen sind für die Erprobung und Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, bei denen Medizinprodukte verwendet werden, geplant. So soll der G-BA künftig, sobald die Ergebnisse einer Erprobung vorliegen, unverzüglich einen Richtlinienbeschluss zur betreffenden Methode für den ambulanten beziehungsweise stationären Sektor treffen.
Diese Regelung kann helfen, die G-BA-Prozesse zu beschleunigen und wird deshalb grundsätzlich begrüßt. Sehr kritisch werden die Vorstöße des Bundesministers gesehen, die Arbeit des G-BA generell stärker an die eigene Leine zu nehmen und seinem Ministerium weitreichende Durchgriffsrechte zu verschaffen. Genaue Wortlaute waren zu Redaktionsschluss noch nicht abschließend bekannt. Das TSVG wird zum 1. Mai dieses Jahres in Kraft treten. Bis zum Abschluss des parlamentarischen Verfahrens wird der Gesetzes-Omnibus noch eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen erfahren.
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