Die Soziale Selbstverwaltung spielt eine zentrale Rolle bei der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Uwe Klemens, Verbandsvorsitzender des vdek und seit über 20 Jahren ein engagierter Selbstverwalter in der Sozialversicherung, spricht im Interview über Erfolge, Herausforderungen und Ziele der Sozialen Selbstverwaltung mit Blick auf die laufende und kommende Legislaturperiode.
Die Legislaturperiode des Deutschen Bundestages neigt sich dem Ende entgegen. Auch die Gremien der Sozialen Selbstverwaltung befinden sich in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit, die 2023 endet. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Uwe Klemens: Die Soziale Selbstverwaltung hat eine spannende und intensive Zeit hinter sich. Corona hat unsere Gesellschaft durchgeschüttelt und natürlich auch die Strukturen der Gesundheitsversorgung und der Sozialen Selbstverwaltung. Die aktuelle Bundesregierung in Person von Jens Spahn als Bundesgesundheitsminister hat aber auch manches anders angepackt als seine Vorgänger. Da sind ja phasenweise im Monatstakt neue Gesetzentwürfe aus dem Gesundheitsministerium gekommen. Das kannten wir vorher so nicht. Jens Spahn hat insbesondere auch die Selbstverwaltung anders gefordert und anders behandelt. Es gab neue Einschnitte, einen härteren Ton. Damit mussten wir umgehen.
Mit welchen Zielen sind Sie in die aktuelle Legislaturperiode hineingegangen?
Als Selbstverwaltung der Ersatzkassen haben wir uns im Rahmen der letzten Regierungsbildung intensiv für eine Schubumkehr eingesetzt. Wir haben klar gesagt: Die Einschnitte in die Entscheidungskompetenzen müssen aufhören. Diese Schubumkehr haben wir nicht erlebt. Unsere Botschaft von vor vier Jahren ist heute noch dieselbe: Der Sozialen Selbstverwaltung muss wieder mehr Entscheidungskompetenz zugetraut werden! Immerhin sind wir die demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber.
Woran machen Sie die neuen Einschnitte für die Selbstverwaltung fest?
Ein gutes Beispiel ist die MDK-Reform, die wir gerade umsetzen. Hier haben wir intensiv darum gerungen, dass die Krankenkassen und insbesondere die Soziale Selbstverwaltung in die organisatorische Steuerung der Medizinischen Dienste weiter eingebunden sind. Selbstverständlich brauchen die Krankenkassen einen medizinischen Dienst, um auf der Grundlage von unabhängiger medizinischer Kompetenz handeln zu können. Die Beitragszahler finanzieren diesen Dienst. Darum es ist richtig, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Sozialen Selbstverwaltung dort auch in Zukunft die zentrale Entscheidungskompetenz haben. Immerhin vertreten sie gleichzeitig die Finanziers und die Betroffenen.
Ein weiteres Beispiel ist die Initiative des Gesundheitsministers, die Soziale Selbstverwaltung aus dem Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes zu entfernen. Im zentralen Entscheidungsgremium der gesetzlichen Krankenversicherung sollten nur noch Hauptamtliche sitzen. Das haben wir abgewendet. Auch die Entscheidungsmöglichkeiten über die Kassenfinanzen sind durch die engen Vorgaben zum Rücklagenabbau bei den Krankenkassen eingeschränkt worden.
Als Soziale Selbstverwaltung kämpfen wir weiter dafür, die Betroffenen wirkungsvoll vertreten zu können. Und wir haben auch Erfolge vorzuweisen. Das Bundessozialgericht hat im Mai entschieden, dass die gesetzlich vorgeschriebene Beauftragung und Vergütung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durch den GKV-Spitzenverband verfassungswidrig ist. Die Selbstverwaltung ist die Interessenvertretung der Beitragszahler. Sie darf zum Beispiel auch die Ausführung einer rechtswidrigen Norm verweigern. Wir haben hier als Soziale Selbstverwaltung geklagt, weil wir die gesetzliche Regelung überprüft haben wollten. Und wir haben uns durchgesetzt.
Die aktuelle Regierungskoalition hat auch erste Schritte für die lange geforderte Reform der Sozialen Selbstverwaltung umgesetzt.
Das stimmt. Insbesondere die Rahmenbedingungen für die Selbstverwaltung und die Sozialwahlen sind endlich weiterentwickelt worden. Das sind Schritte, die wir als Ersatzkassen schon seit vielen Jahren gefordert haben. Es gibt jetzt eine echte Frauenquote für die Besetzung der Gremien ab den Sozialwahlen 2023. Das ist ein großer Fortschritt. Dazu gehört auch, dass die Anforderungen für demokratische Prozesse in der Kandidatenauswahl für die Sozialwahllisten angehoben wurden. Es gibt bessere Rahmenbedingungen für die Ehrenamtlichen, zum Beispiel zusätzliche Urlaubstage für Fortbildungen und eine klarer geregelte Freistellung vom Arbeitsplatz. Dafür haben sich nicht zuletzt die Bundeswahlbeauftragte Rita Pawelski und ihr Stellvertreter Klaus Wiesehügel intensiv eingesetzt. Und dann haben wir endlich die Chance erhalten, erstmals Online-Sozialwahlen durchzuführen. Die mögliche Signalwirkung von diesem Projekt ist enorm. Parallel zur Briefwahl dürfen Krankenkassen bei den Sozialwahlen 2023 auch eine Online-Stimmabgabe anbieten. Da sind wir als traditionell urwählende Ersatzkassen natürlich mit dabei.
Werfen wir den Blick nach vorne. Wie sehen die Ziele und Forderungen aus Sicht der Ersatzkassenselbstverwaltung aus?
Aus meiner Sicht sind hier unterschiedliche Aspekte wichtig: Gegenüber der Gesundheitspolitik werden wir uns einerseits weiter mit Vehemenz für eine stabile und nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und auch der Pflegeversicherung einsetzen. Insbesondere müssen wir die Pflegebedürftigen bei den Eigenanteilen entlasten. Außerdem muss auch grundsätzlich der Entscheidungsspielraum der gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Sozialen Selbstverwaltung ausgebaut werden. Die Kraft und das Potenzial der Selbstverwaltung müssen tatsächlich ausgeschöpft werden. In Bezug auf die Rahmenbedingungen für die ehrenamtliche Arbeit und insbesondere die Sozialwahlen sind wir jetzt aber selbst am Zug. Wir müssen hier unsere Hausaufgaben machen. 2023 werden wir die neuen Geschlechterquoten in den Gremien umsetzen. Und wir führen die Sozialwahlen erstmals mit einer Online-Wahl durch. Daran arbeiten wir schon auf Hochtouren. Online-Wahlen gab es in Deutschland in dieser Größenordnung für gesetzlich vorgeschriebene Wahlen noch nie. Da steckt eine Menge Herausforderung drin. Wir werden als Selbstverwaltung und auch als ganze Gesellschaft hier viel dazulernen. Die Wahlen wird man dann auswerten. Und dann ist es wichtig, dass diese Online-Möglichkeiten auch für kommende Sozialwahlen gesetzlich festgeschrieben werden. Das aktuelle Modellprojekt ist ja auf 2023 beschränkt. Da muss dann also gesetzlich der nächste Schritt kommen.
Wichtig ist, dass auch das Ehrenamt in der Sozialen Selbstverwaltung weiter gestärkt wird. Aktuell fehlen angemessene Steuerfreibeträge für die Aufwandsentschädigungen der Ehrenamtlichen. Und sie werden bundesweit nicht einheitlich gehandhabt. Die Selbstverwaltung sollte hier behandelt werden wie die Ehrenamtlichen in den Sportvereinen mit der sogenannten Übungsleiterpauschale.
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