Obligatorische Anschlussversicherung

Fehlanreize für Krankenkassen

Unregelmäßigkeiten bei den Saisonarbeitnehmern offenbaren schon lange bekannte Fehlanreize für gesetzliche Krankenkassen zur Optimierung von Gesundheitszuweisungen. Es besteht dringender politischer Handlungsbedarf, um auflaufende Beitragsschulden und Fehlzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für die Zukunft zu vermeiden.

Saisonarbeitskraft

Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde 2007 angesichts wachsender Zahlen nicht versicherter Personen in Deutschland das Ziel verfolgt, alle Einwohner ohne Absicherung im Krankheitsfalle, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung haben und die zuletzt gesetzlich krankenversichert waren, in die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einzubeziehen (§ 5 Abs. 1, Nr. 13 SGB V). Angesichts stark steigender Beitragsschulden und vermehrt auftretender Versicherungslücken im Mitgliedschaftsverlauf wurde mit dem „Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung“ ab 2013 eine ergänzende Regelung zur „obligatorischen Anschlussversicherung (oAV)“ in § 188 Abs. 4 SGB V eingeführt, die für den Fall des Endes der Versicherungspflicht automatisch eine freiwillige Mitgliedschaft vorsieht, wenn das Mitglied nicht eine anderweitige Versicherung nachweist und seinen Austritt oder seinen Verzug ins Heimatland erklärt. Diese Regelungen haben inhaltlich zur Konsequenz, dass eine Mitgliedschaft immer und in jedem Fall fortzuführen ist, auch wenn der Versicherte trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten der Krankenkasse nicht auf deren Anfragen zur Klärung des Versicherungsverhältnisses reagiert und sogar Beitragsrückstände entstehen.

Dieser generell gültige Mechanismus ist in den letzten beiden Jahren zunehmend durch Unregelmäßigkeiten bei den Saisonarbeitnehmern in die Diskussion gekommen. Denn die oAV musste auch durchgeführt werden, wenn es sich um einen ausländischen Saisonarbeitnehmer handelte, bei dem die Vermutung nahe lag, dass er sich bereits wieder in sein Heimatland begeben hat. Dies führte dazu, dass hochwahrscheinlich eine Vielzahl von Mitgliedschaften dauerhaft durchgeführt wurde, obwohl die Versicherten möglicherweise gar nicht mehr in Deutschland waren. Die Durchführung einer Mitgliedschaft ist aber auf der anderen Seite in jedem Fall ausschlaggebend für die Meldung von Versicherungszeiten für Zuweisungen an die Krankenkasse aus dem Gesundheitsfonds.

Die sozialpolitisch sicher unangreifbare Prämisse, allen Einwohnern einen lückenlosen Krankenversicherungsschutz zukommen zu lassen, ist allerdings in der bisherigen Gesetzeskonstruktion mit Blick auf potenzielle Fehlzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds hochproblematisch. Es werden laufend Zuweisungen gezahlt für eine nicht genau bezifferbare und unter gegebenen Bedingungen auch nicht flächendeckend prüfbare Menge an Personen, die möglicher weise nur „Karteileichen“ sind. Seitens der GKV wird geschätzt, dass für 3,5 Prozent aller freiwilligen Mitgliedschaften (oder rund 200.000 Personen) Beitragsrückstände bestehen und aufgrund fehlender Erreichbarkeit oder fehlender Mitwirkung eine Beitragsfestsetzung in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze erfolgte. Formal ist die Mitgliederbestandsführung völlig legal. Ordnungspolitisch geht von dieser Gesetzeskonstruktion aber ein immanenter Fehlanreiz für die Krankenkassen auf deren Praxis bei ihrer Amtsermittlungspflicht aus, weil dadurch möglicherweise Zuweisungen gekürzt werden könnten. Man kann zudem davon ausgehen, dass die potenziell infrage kommenden Personenkreise zwischen den Krankenkassen ungleich verteilt sind, sodass auch direkte Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Außerdem sind die bestehenden Regelungen mitverantwortlich für die ständig aufwachsenden, mittlerweile wieder exorbitant hohen Beitragsschulden in der GKV in Höhe von fast sieben Milliarden Euro. Bei fehlender Mitwirkung des Mitglieds muss die Krankenkasse sogar grundsätzlich Höchstbeiträge nach der Beitragsbemessungsgrenze festsetzen.

Neuregelung für Saisonarbeiter

Für die eng abgegrenzte Gruppe von Saisonarbeitnehmern wurden daher immerhin die Bedingungen für eine Mitgliedschaft so weit konkretisiert, dass für diesen Personenkreis nach dem Ende des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses keine oAV mehr zu begründen ist. Saisonarbeitnehmer ist nach der neuen gesetzlichen Regelung des „Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften“, wer vorübergehend für eine versicherungspflichtige auf bis zu acht Monate befristete Beschäftigung nach Deutschland gekommen ist, um einen jahreszeitlich bedingten, jährlich wiederkehrenden und erhöhten Arbeitskräftebedarf des Arbeitgebers abzudecken. Bei der Beschäftigung einer solchen Person hat der Arbeitgeber seit 1. Januar 2018 im Rahmen der Anmeldung im maschinellen Meldeverfahren mitzuteilen, ob der Beschäftigte als Saisonarbeitnehmer tätig ist.

Mit dem übermittelten Kennzeichen „ Saisonarbeitnehmer“ wird die Krankenkasse davon befreit, eine oAV nach dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung zu begründen. Andererseits wird sie verpflichtet, nach Eingang der Anmeldung den Saisonarbeitnehmer darauf hinzuweisen, dass ihm ein Beitrittsrecht zur GKV zusteht, wenn er sich nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses weiter in Deutschland dauerhaft aufhält und nicht in sein Heimatland zurückkehrt. Die Antragsfrist für eine solche Versicherung beträgt drei Monate. Danach ist die Person endgültig von der Krankenkasse aus dem Versichertenbestand – auch rückwirkend – zu streichen.

Generelle Neuregelung überfällig


Das Thema oAV wird auch in der neuen Legislaturperiode eine große Rolle spielen. Hier gilt es, weitergehende Regelungen auch für andere potenzielle Personenkreise zu schaffen, die generell das Entstehen oder die Fortführung eines Versicherungsverhältnisses vermeiden, wenn der Versicherte keinen Kontakt mit der Krankenkasse hält. Nur so kann die Anhäufung exorbitanter Beitragsschulden und laufender Fehlzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für „Karteileichen“ verhindert werden. Seitens der Verbände der Krankenkassen wurden bereits Ende letzten Jahres dem Bundesgesundheitsministerium entsprechende Vorschläge unterbreitet. Die präsentierten Vorschläge müssen so frühzeitig wie möglich in ein Gesetzgebungsverfahren überführt werden, um die beschriebenen Probleme Beitragsschulden und Fehlzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für die Zukunft zu vermeiden. Zu lange bereits bestehen diese Probleme, die rückwirkend aber praktisch nicht aufgeklärt und bereinigt werden können.

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 1/2 2018