Interview mit Prof. Dr. Marie-Luise Dierks

"Auf die Nähe zum Patienten kommt es an"

Die Nachfrage nach einem Studienplatz in der Medizin ist groß. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember letzten Jahres stellt nun die Zulassungskriterien auf den Prüfstand. Zugleich besteht bei der Ausgestaltung des Medizinstudiums Handlungsbedarf. Der „Masterplan Medizinstudium 2020“ soll die angehenden Ärzte besser auf künftige Herausforderungen in der Versorgung vorbereiten. Prof. Dr. Marie-Luise Dierks ist Leiterin des Forschungsschwerpunktes Patientenorientierung und Gesundheitsbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Vor elf Jahren hat sie die erste Patientenuniversität Deutschlands aufgebaut. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht sie über die Bedeutung der Arzt-Patienten-Kommunikation und die Anforderungen an den Praxisbezug des Medizinstudiums.

Prof. Dr. Marie-Luise Dierks

Die erste Patientenuniversität Deutschlands haben Sie 2007 an der MHH aufgebaut. Wofür steht diese?

Hinter der Idee der Patientenuniversität steht der Gedanke, die Dinge, die Medizinstudierende lernen, die das Krankenpflegepersonal lernt, die andere Gesundheitsprofessionen lernen – nämlich den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung zu Gesundheit und Krankheit – laienverständlich an Bürgerinnen und Bürger zu vermitteln. Wir organisieren hier unter anderem Abendveranstaltungen zu ausgewählten Themen. Die Themen sind vielfältig – die Funktion und bestimmte Erkrankungen von Organen werden dargestellt, ebenso neue Therapieverfahren oder auch, wie Patientinnen und Patienten selbst zur Heilung oder Bewältigung von Erkrankungen beitragen können. Aber Vorträge allein, das zeigt uns die Bildungsforschung nachdrücklich, reichen zur guten Wissensvermittlung nicht aus. Daher ergänzen wir Expertenvorträge durch interaktive Lernstationen. Und die machen das Programm so bunt und vielfältig.

Was steckt hinter den Lernstationen?

Die Lernstationen kann man sich wie einen Parcours vorstellen. Wir bauen zwölf bis 15 Stände auf, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des jeweiligen Themas beschäftigen. Nehmen wir als Beispiel den Themenabend „Das kranke Herz“. Zunächst gibt es den Expertenvortrag, im Anschluss haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, an den einzelnen Lernstationen spezifische Aspekte der Herzerkrankungen zu vertiefen. Dort kann man sich zum Beispiel die neuesten Forschungsergebnisse genauer erklären lassen, man kann Fragen stellen, man kann Dinge ausprobieren. Wir zeigen zum Beispiel das Organ im Modell, manchmal auch im Tiermodell, bieten Experimente an oder üben mit den Teilnehmenden, was man selbst zur Prävention von Erkrankungen tun kann. Wir nennen die Zeit an den Lernstationen auch „Medizin zum Anfassen“.

Wer besucht die Patientenuniversität?

Sie richtet sich an alle Interessierten, jeder Mensch hat Zugang. Die Nachfrage ist groß, in unserem Hörsaal sitzen im Durchschnitt 200 Personen. Rund die Hälfte ist selbst von einer Krankheit betroffen. Der Altersdurchschnitt unserer „ Studierenden“ liegt bei 60 Jahren, es kommen aber auch sehr junge Menschen – zum Beispiel über Schulen, die die Gesundheitsthemen in den Unterricht integrieren. Zudem nehmen Personen teil, die im Gesundheitswesen arbeiten, zum Beispiel bei einer Krankenkasse oder in der Verwaltung von Krankenhäusern. Aber wie gesagt, der Großteil der Besucherinnen und Besucher sind Menschen, die selbst direkt oder indirekt von Krankheit betroffen sind. Sie erhoffen sich mehr Wissen und damit auch einen besseren Umgang mit der Erkrankung.

Geht es vorrangig um Informationsvermittlung?

Informationsvermittlung ist ein wichtiger Baustein. Es ist heute ja so, dass Menschen eine ganze Reihe von Fähigkeiten haben müssen, um sich im Gesundheitswesen zurechtfinden zu können. Diese Fähigkeiten werden in der aktuellen Diskussion unter dem Begriff Gesundheitskompetenz zusammengefasst. Menschen müssen in einem modernen Gesundheitssystem in der Lage sein, schriftliche Informationen zu verstehen, sie sollten wissen, wo sie gute Informationen zu Gesundheit und Krankheit finden oder an wen sie sich im Notfall wenden können. Es ist sicher hilfreich, wenn sie Patientenrechte kennen. Wenn sie wissen, wie sie den ärztlichen Notdienst erreichen. Sie sollten ihre Krankheitssymptome gut schildern können und sich trauen, in Arztgesprächen nachzufragen, wenn sie Informationen nicht gleich verstehen. All diese Dinge versuchen wir zu vermitteln. Das Interessante an unserem Konzept ist zudem, dass wir über unsere Lernstationen die Menschen „en passant“ erreichen, die ergänzend zu dem jeweiligen Gesundheitsthema, das sie interessiert, nützliche Hinweise erhalten. Diese Hinweise schätzen sie sehr und stufen sie für sich als hilfreich ein.

Sollten Patienten sich mehr zutrauen?


Das ist ein weiterer wichtiger Baustein der Patientenuniversität, nämlich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu ermutigen, Fragen zu stellen, sich Dinge genau erklären zu lassen, mit Ärzten und anderen behandelnden Personen ins Gespräch zu kommen. Wir fassen dies unter dem Begriff Empowerment zusammen. Man könnte auch sagen, es geht um die mündigen Patienten oder Bürger. In der systematischen, anonymen Evaluation unserer Arbeit sagen uns die Teilnehmenden, sie seien nach dem Besuch der Veranstaltungen mutiger geworden, trauten sich mehr zu, könnten besser formulieren, fragten bestimmte Dinge hartnäckiger als zuvor nach. Dies ist ein schönes und wichtiges Ergebnis und zeigt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.

Wer betreut die Lernstationen?

Es sind Kolleginnen und Kollegen aus der Medizinischen Hochschule, darüber hinaus binden wir zum Beispiel Studierende der Humanmedizin und der Bevölkerungsmedizin, Schülerinnen und Schüler der Krankenpflegeschulen, der Schule für Diätassistenten oder für Logopädie ein. Die Einbindung von Studierenden und Schülern ist ein sehr wichtiger Aspekt der Arbeit in der Patientenuniversität. Sie sind als Lehrende an den Lernstationen aktiv und vermitteln hier das, was sie selbst im Studium oder in der Ausbildung gerade lernen, in verständlicher Weise. Dadurch lernen auch sie selbst, komplexe Sachverhalte in einfachen Worten zu vermitteln. Sie kommunizieren direkt mit den Patienten, wie später auch in der beruf lichen Praxis, denn auf die Nähe zu den Patienten kommt es ja vor allem an. Wie die Vermittlung erfolgen kann und soll, üben wir unter anderem in Wahlkursen, die in das Studium integriert sind, und wir oder auch die Praxisanleiter supervidieren und geben Feedback.

Könnte so ein Wahlkurs zukünftig eine Anforderung im Studium der Humanmedizin werden?


Grundsätzlich denke ich, sollte der Aspekt der Kommunikation, der Informationsvermittlung und der Patientenorientierung in der Ausbildung von Gesundheitsberufen gestärkt werden. Das sieht unter anderem auch der „Masterplan Medizinstudium 2020“ vor. Hier wird sehr deutlich formuliert, dass gerade diese Aspekte in Deutschland noch zu wenig verankert sind. Die Medizinische Hochschule Hannover ist hier im Übrigen schon recht weit. Wir haben den Modellstudiengang „Hannibal“, in dem Patientenorientierung und Kommunikation mit Patienten vom ersten Semester an eine wichtige Rolle spielen.

Die kommunikativen Fähigkeiten künftiger Ärzte sollen gestärkt werden. Müsste man denn nicht bereits bei den Zulassungskriterien zum Medizinstudium ansetzen? Diese stehen im Zuge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts im Dezember letzten Jahres auf dem Prüfstand. Wo sehen Sie hier Handlungsbedarf?


Es ist sicher vernünftig, sich über die Zugangsvoraussetzungen Gedanken zu machen. Der Numerus Clausus wurde durch das Urteil in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Künftig soll es nicht nur um exzellente Abiturnoten gehen, sondern es soll auch die soziale Eignung für das Studium der Medizin geprüft werden. Viele Universitäten setzen ja bereits heute Auswahlgespräche ein, in denen Motivation, Kommunikationsfähigkeit oder Empathie und soziales Engagement der potenziellen Studierenden erfasst werden. Dass diese Aspekte über die Abiturnoten hinaus relevant werden sollten, ist inzwischen nicht mehr infrage gestellt. Die Frage ist eher, wie entsprechende Verfahren an den Hochschulen etabliert werden können und müssten. Und dabei ist sicherlich wichtig, dass die Hochschulen ihre Auswahlkriterien entsprechend ihres Profils in Forschung und Lehre formulieren. Damit wird es auch für Studierende einfacher, sich gezielt zu bewerben. Den Wettbewerb um die besten Köpfe und die besten Ärzte könnten die Universitäten auch über die Zulassung der Studierenden gestalten.

Nun wird das Medizinstudium stark nachgefragt. Brauchen wir mehr Studienplätze?


Hier gibt es sehr unterschiedliche Positionen. Mehr Studienplätze zu schaffen, ist eine Forderung der Ärzteschaft, die eine Erhöhung der aktuellen Kapazitäten um etwa zehn Prozent fordert, und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines gestiegenen Versorgungsbedarfs einer alternden Bevölkerung. Dies scheitert bislang daran, dass hierfür Investitionen erforderlich sind, die die Bundesländer tragen müssen. Auf jeden Fall ist das Interesse am Medizinstudium unter den Abiturientinnen und Abiturienten nach wie vor sehr hoch.

Auf der anderen Seite aber klagen Ärzte über ihre Arbeitsbedingungen. Wie passt das zusammen?


Im Moment mögen die Arbeitsplätze für Mediziner nicht besonders attraktiv erscheinen, wenn man auf Berichte über die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern schaut oder auf die Belastung im ambulanten Bereich. Hier müssen wir auf Dauer sicher mehr als bisher über Delegation und Substitution sprechen. Aber man darf nicht vergessen: Das Medizinstudium bietet die Chance auf einen gut bezahlten, prestigeträchtigen Beruf. Es bietet die Chance, sich selbstständig zu machen, was für viele ein großer Anreiz ist. Und nicht zuletzt spielt der persönliche Wunsch, Menschen helfen zu können, eine sehr zentrale Rolle bei der Studienwahl.

Wohin geht die Ausbildung des Arztes – zum Generalisten oder Spezialisten?


Aktuell ist die Ausbildung ja zweigeteilt – die generalistische Ausrichtung des Studiums selbst und die Spezialisierung nach dem Studium im Rahmen der Facharztweiterbildung. Interessant ist, dass sich immer noch der überwiegende Teil der ausgebildeten Ärzte für ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert – und die von vielen doch eher als generalistische Tätigkeit verortete Aufgabe in der Allgemeinmedizin deutlich weniger attraktiv ist. In einigen Regionen zeichnet sich bereits heute eine Unterversorgung ab und die Entwicklung von Anreizmodellen wird vorangetrieben. Jenseits der Diskussion um das traditionelle Medizinstudium zeigt sich jedoch auch, dass sich Assistenzberufe etablieren, die Aufgaben übernehmen, die bislang im Tätigkeitsspektrum der Mediziner verortet sind. Auch wird sich vermutlich die Rolle von Pflegekräften in den nächsten Jahren hin zu mehr Eigenständigkeit entwickeln.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit zwischen den Fachärzten?


Dies kann ich vor allem aus der Perspektive der Patientinnen und Patienten beurteilen. Der Zugang zu Fachärzten ist für die Patienten kompliziert und oftmals mit recht langen Wartezeiten verbunden. Auch klappt die Kooperation zwischen Hausärzten und Fachärzten nicht immer reibungslos. Problematischer erscheint mir aber die Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Informationen werden nicht zeitnah weitergegeben, Patienten werden unterschiedlich informiert, Medikationen werden nicht abgesprochen. Hier kann zukünftig eine elektronische Patientenkarte sicher ein hilfreiches Instrument sein, aber auch weitere Strategien sollen und müssen entwickelt werden. Entsprechende Initiativen werden aktuell unter anderem durch den Innovationsfonds unterstützt. Im Rahmen dieser Projektförderung werden neue Versorgungsformen erprobt und evaluiert, die insbesondere eine Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung zum Ziel haben.

Welche Rolle spielt hier die Digitalisierung?


Digitalisierung ist ja ein Zauberwort, das durchaus unterschiedlich gebraucht wird. Unbenommen ist, dass neue Technologien – die Möglichkeiten des schnellen Datentransfers, Videosprechstunden, Gesundheitsapps, elektronische Patientenakten, auf die Patienten und alle behandelnden Personen gleichermaßen Zugriff haben – die medizinische Versorgung vermutlich deutlich verändern werden. Mehr Transparenz, mehr Autonomie, ein schneller Zugang zu Experten – dies sind positive Aspekte, auch aus Sicht der Patientinnen und Patienten. Dennoch ist es für Patienten nach wie vor sehr wichtig, dass der persönliche Kontakt und die persönliche Information nicht zu kurz kommen. Wenn also Digitalisierung dazu beiträgt, die behandelnden Personen von Aufgaben zu entlasten, die nicht unmittelbar der Behandlung der Erkrankten dienen und damit Kapazitäten für Kommunikation und Information frei werden, ist dies sehr zu begrüßen.

Schauen wir in die Zukunft: Wie gehen Arzt und Patient in zehn Jahren miteinander um?


Zehn Jahre sind, so die Erfahrungen der letzten 40 Jahre, keine sehr lange Zeitspanne, um tradierte Verhaltensweisen und eingespielte Kommunikationsmuster komplett zu verändern. Ich wünsche mir sehr, dass die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten in zehn Jahren mehr als heute auf Augenhöhe stattfindet, in einer partnerschaftlichen Beziehung, in die beide Seiten ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen. Ich wünsche mir auch, dass es selbstverständlich ist, dass Patienten verständliche und klare Informationen bekommen, dass sie gute Entscheidungen treffen können und dass ihre Bedürfnisse von allen an der Behandlung Beteiligten beachtet und berücksichtigt werden.

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