Der Allgemeinarzt Prof. Dr. Attila Altiner beschäftigt sich mit dem Thema Gesundheitskompetenz in vielfältiger Weise in Forschung, Lehre und der Betreuung von Patientinnen und Patienten. Im Interview spricht er unter anderem über die Bedeutung und Stärkung von Gesundheitskompetenz sowie die Herausforderungen mit Blick auf verlässliche Informationen im Zuge des digitalen Zeitalters.
Seit wann ist Ihnen Gesundheitskompetenz ein Begriff?
Attila Altiner: Gesundheitskompetenz hat sicherlich bereits als Konzept existiert, als ich vor etwas mehr als 20 Jahren in die wissenschaftliche Allgemeinmedizin gelangte. Damals wurden aber eher andere Begrifflichkeiten wie zum Beispiel Patienten- Empowerment oder Shared-Decision-Making diskutiert, die eng mit dem Begriff der Health Literacy verbunden sind, was ja in der wörtlichen Übersetzung Gesundheits-Lesefähigkeit meint. Der Begriff Gesundheitskompetenz, wie wir ihn heute als deutsche Übertragung der Health Literacy verwenden, etablierte sich in meiner Wahrnehmung vor etwa zehn Jahren. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und für selbstbestimmte gesundheitsbezogene Entscheidungen anzuwenden.
Wovon ist Gesundheitskompetenz geprägt?
Sie hängt bestimmt auch von der unterschiedlichen Herangehensweise der Menschen im Umgang mit Informationen generell ab. Einige beziehen ihre Informationen aus einem einzigen Fernsehkanal, andere sind da abwägender oder sogar mit Begeisterung dabei, sich über viele verschiedene Informationsquellen zu informieren. Wie bei anderen Entscheidungen auch müssen Menschen selbst Verantwortung übernehmen und die Grunderwartung haben, dass durch die Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit und mit Gesundheitsinformationen ein gesünderes Leben möglich ist. Umgekehrt muss das Gesundheitssystem den Menschen vermitteln, dass es gewünscht ist, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Das heißt, Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeitserwartung sind eng miteinander verbunden. Andersherum gesagt: Wenn ich denke, dass ich eh nichts verändern kann, warum soll ich mir dann die Mühe machen, mich möglichst objektiv zu informieren?
Wo verorten Sie Gesundheitskompetenz innerhalb der Versorgung?
Die Medizin hat sich lange Zeit vor allem auf das Beschreiben und Behandeln von Krankheit konzentriert. Bei der Diskussion um Gesundheitskompetenz kommt vielleicht manchmal zu kurz, dass Kompetenzen erlernt und geübt werden müssen, um schließlich selbstständig angewendet zu werden. Es geht also bei Weitem nicht nur um die Erlangung von Wissen. Insofern ist es eine Aufgabe für die Akteurinnen und Akteure in der Versorgung, Gesundheitskompetenz entstehen zu lassen. Zum Beispiel mithilfe guter evidenzbasierter Entscheidungshilfen. Die Förderung von Gesundheitskompetenz ist unverzichtbarer Bestandteil einer guten Versorgung. Das klingt vielleicht utopisch, muss aber dennoch unser Ziel sein.
Ist Gesundheitskompetenz in bestimmten Bereichen besonders wichtig?
Gesundheitskompetenz wird immer gebraucht, um mit den Informationen rund um das Thema Gesundheit umgehen zu können. Ich muss eine Vorstellung davon haben, wofür der Beipackzettel zu einem Medikament gut ist, sonst werfe ich ihn ungelesen weg. Ich sollte wissen, dass wir in Deutschland eher zur Überversorgung tendieren, um viele Informationen einordnen zu können. Ich muss wissen, dass sehr viele Informationen zu Gesundheitsthemen aufgrund konkreter wirtschaftlicher Interessen verfasst werden. Gleichzeitig sollte ich auch wissen, nach welchen Kriterien ich die Qualität von Informationen abschätzen kann.
Wie wirkt sich Gesundheitskompetenz auf das eigene Gesundheitsverhalten aus?
Einen großen Einfluss hat Gesundheitskompetenz zum Beispiel auf die Adhärenz. Wenn eine Person gemeinsam mit der Ärztin oder dem Arzt einen Behandlungsplan entwickelt und damit eine realistische Erwartung in Bezug auf die Therapieeffekte hat, ist die Chance für Adhärenz viel höher. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung setzt aber Reflexion voraus und dafür ist Gesundheitskompetenz eben unabdingbar. Aber auch schon auf niedrigschwelliger Ebene wirkt sich Gesundheitskompetenz positiv auf das Gesundheitsverhalten aus. Ernährung, Sport, Rauchen, Trinken – je mehr ich über die Folgen weiß und die Auswirkungen meines Verhaltens verstanden habe, umso eher kann ich eine Entscheidung treffen, mein Verhalten verändern zu wollen.
Ist Gesundheitskompetenz eine Frage der Bildung?
Viele Untersuchungen zeigen tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Gesundheitskompetenz. Dies ist aber nicht die einzige Determinante. Gesundheitskompetenz ist ein Konzept, das die Menschen in verschiedenen Lebenswelten erreichen und fördern muss. In bildungsfernen Bevölkerungsgruppen müssen andere Wege verfolgt werden als beispielsweise im Bereich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die meist noch keinen regelmäßigen Kontakt zum Gesundheitssystem haben, dafür aber digitale Medien als (fast) ausschließliche Informationsquelle nutzen.
Mit dem digitalen Zeitalter wächst die Flut an Informationen.
Gesundheitskompetenz ist auch digitale Medienkompetenz. Jeder von uns kennt es: Taucht ein uns unbekanntes Symptom auf, googeln wir erst einmal. Hier die relevanten und vor allem qualitätsgesicherten Informationen herauszufiltern, ist eine große Herausforderung. Wir sehen das im Praxisalltag: Viele, die zu uns in die Sprechstunde kommen, informieren sich vorab im Internet – und manche bringen große Stapel an unsortierten Ausdrucken mit in die Praxis. Für den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin kann das zunächst einmal irritierend wirken. Dabei bietet sich gerade hier die Chance, eine gemeinsame Schnittmenge mit den Patientinnen und Patienten zu finden und diese in ihrer Selbstwirksamkeit zu fördern.
Steigt in verunsichernden Zeiten wie der Corona-Pandemie das Interesse an Gesundheitsinformationen?
Einerseits ja, und ich hoffe, dass wir alle auch etwas daraus gelernt haben, andererseits kommt es dann auch leicht zu einer Informationsüberflutung, bei der selbst die Fachleute irgendwann abschalten. Im Rahmen der Pandemie haben wir gesehen, dass es vor allem in den sozialen Medien zu einer Ausbreitung von Filterblasen, sogenannten Bubbles, gekommen ist, in denen die Nutzenden die Welt nur durch ihre eigene Brille zu sehen bekommen. Wir sehen viele Beispiele für den Dunning-Kruger-Effekt, der beschreibt: Wenn ich besonders wenig Ahnung von einer Sache habe, neige ich am ehesten dazu, mich selbst für besonders gut informiert und kompetent zu halten.
Wie lässt sich Falschnachrichten und verzerrten Wahrnehmungen entgegenwirken?
Das ist im digitalen Zeitalter eine große Herausforderung, auf allen Ebenen, nicht nur im Gesundheitswesen. Wer nicht aufpasst, landet schnell in einer der angesprochenen Bubbles, sei es nun mit Blick auf Gesundheitsthemen oder politische Bereiche. Während der Suche nach interessanten Themen ist der Schritt nicht weit, durch Algorithmen auf einem individuellen Weg der Desinformation zu landen. Das passiert mit Sicherheit auch bei Gesundheitsthemen. Hier stehen wir auch vor einem Dilemma: Mit hoher Gesundheitskompetenz ließen sich die Desinformationen besser herausfiltern. Zugleich befördern falsche Informationen mangelnde Gesundheitskompetenz. Dieser Entwicklung entgegengesteuert wird unter anderem durch den Aufbau hochqualitativer Portale, in denen geprüfte Informationen hinterlegt werden. Es ist aber unglaublich schwer, dafür zu sorgen, dass diese Angebote in den üblichen Internetsuchen überhaupt auf der ersten Seite auftauchen.
Von der Praxis zur Theorie: Inwieweit ist Gesundheitskompetenz Teil des Medizinstudiums und der fachlichen Weiterbildung?
Alle Gesundheitsberufe sollten eine Vorstellung davon entwickeln, was Gesundheitskompetenz ist und wie man sie fördern kann. Dabei lassen sich Themen wie Gesundheitskompetenz und Arzt-Patienten-Kommunikation aber nicht im Rahmen eines einzigen Seminars absolvieren. Sie müssen integraler Bestandteil von Studium und auch von Weiterbildung sein. Zunächst einmal müssen die Studierenden ja selbst eine gewisse Gesundheitskompetenz erlangen und dann auch noch in der Lage sein, diese eigenen Kompetenzen in die Beratungssituation einfließen zu lassen. In der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten werden Basisfertigkeiten zur Kommunikation zwar an fast allen Universitäten auch im Rahmen praktischer Übungen vermittelt, das reicht aber mit Sicherheit nicht aus, um ein ausreichendes Bewusstsein für Gesundheitskompetenz zu schaffen. Und in der Weiterbildung kommt das Thema in den meisten Fachrichtungen, wenn überhaupt, nur am Rande vor.
An welcher Stelle wünschen Sie sich noch mehr Engagement in Sachen Gesundheitskompetenz?
Als Wissenschaftler wünsche ich mir mehr Forschungsvorhaben. Wir brauchen eine solide Evidenzgrundlage, um einschätzen zu können, welche Ansätze zur Förderung von Gesundheitskompetenz tatsächlich funktionieren. Als Bürger denke ich, dass Deutschland als unfassbar reiches Land viel mehr in Gesundheitskompetenz investieren könnte. Jeder Mensch hat Anspruch auf Bildung und Gesundheit. Und Gesundheitskompetenz ist dort angesiedelt, wo Bildung und Gesundheit zusammenkommen.