hkk-Gesundheitsreport

Werden Opioide von Ärzten unterschätzt?

Starke Schmerzmittel wie Morphin, Fentanyl und Tilidin sollten nur in schwerwiegenden Fällen – beispielsweise in der Krebstherapie – eingesetzt werden, da sie ein großes Suchtpotenzial haben. In Deutschland werden sie jedoch mittlerweile überwiegend Patienten mit Rückenbeschwerden und Arthrose verordnet, obwohl das bei diesen Erkrankungen die Ausnahme sein sollte. Das ist das Ergebnis des Opioid-Reports der Universität Bremen, der unter Leitung des Arzneimittelexperten Prof. Dr. Gerd Glaeske († 27. Mai 2022) in Kooperation mit der hkk Krankenkasse erarbeitet wurde.

Illustration: Sport statt Opioideinnahme

Laut ärztlichen Leitlinien sollten starke Opioide wie Fentanyl nur dann verordnet werden, wenn alle anderen therapeutischen Optionen erfolglos waren. Erst im April dieses Jahres hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft gewarnt, dass die wiederholte Anwendung von Fentanyl, zum Beispiel in Form von Nasenspray oder Lutschtabletten, Opioid-Abhängigkeit zur Folge haben kann und eine missbräuchliche Falschanwendung zu einer Überdosierung oder sogar zum Tod führen kann. Insbesondere chronische Schmerzen sollten daher immer zunächst mit Heil- und Hilfsmitteln wie Ergo- oder Physiotherapie und gegebenenfalls zusätzlich mit opioidfreien Schmerzmitteln behandelt werden.

Grund zur Sorge gibt die Auswertung von hkk-Daten: Entgegen der innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eher rückläufigen Vergabe des Wirkstoffes Fentanyl (-0,3 Prozent) stiegen die verordneten definierten Tagesdosen (DDD) bei der hkk zwischen 2019 und 2020 um 6,6 Prozent an. Fentanyl wirkt 100-mal stärker als Morphin und birgt ein sehr hohes Suchtpotenzial. Geschieht die Abgabe unkontrolliert, besteht die erhöhte Gefahr einer Medikamenten-Abhängigkeit, welche die Solidargemeinschaft mittelfristig teuer zu stehen kommt. Starke Opioide sollten Patienten in Hospizen, die unter Tumorschmerzen und anderen schweren Schmerzzuständen leiden, vorbehalten sein. Dennoch zeigen die hkk-Daten, dass starke Opioide der WHO-Stufe-III bei 81 Prozent der Frauen und 78 Prozent der Männer verordnet wurden, für die keine Krebserkrankung kodiert wurde. Am häufigsten erhielten diese Arzneimittel Patienten mit Rückenbeschwerden und Arthrose, wobei sie zum größten Teil (87 Prozent) von Allgemeinmedizinern und hausärztlich tätigen Internisten verschrieben wurden.

Mehr Aufklärung notwendig

Schmerzen gehören zu den am häufigsten auftretenden Beschwerden in Deutschland: Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. leiden aktuell etwa 23 Millionen Menschen in Deutschland (28 Prozent) an chronischen Schmerzen. Die Behandlung dieser Schmerzpatienten ist daher in der täglichen medizinischen Versorgung elementar. Im Mittelpunkt der heutigen Schmerztherapie stehen somit nicht Patienten mit akuten Schmerzen, denen durch Schmerzmittel einfach und zuverlässig geholfen werden kann. Vielmehr fokussiert sich die aktuelle Schmerztherapie auf Patienten mit chronischen Schmerzen. Eine medikamentöse Langzeitanwendung sollte bei derartigen Erkrankungen, wenn überhaupt, nur in Einzelfällen erfolgen und mit einer regelmäßigen Überprüfung der Dosis sowie einer eventuell bestehenden Abhängigkeit einhergehen. Zudem ist die Einbeziehung eines ausgewiesenen Schmerztherapeuten unbedingt anzuraten. Dabei sehen die Studienautoren Ärzte in der Pflicht, die Suchtgefahr von Opioiden gegenüber ihren Patienten stärker zu kommunizieren und Behandlungsalternativen wie multimodale Schmerztherapie aufzuzeigen.

Ein großes Problem bei der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten sei die Unwissenheit vieler Ärzte, proklamieren die Wissenschaftler mit Verweis auf eine Befragung zum Umgang mit Opioiden bei schmerztherapeutisch interessierten Ärzten. Diese zeige erhebliche Wissenslücken bei den WHO-Empfehlungen sowie bei zum Beispiel Indikationsstellungen und praxisrelevanter Pharmakologie. So gaben zum Beispiel 81,9 Prozent der Ärzte an, dass sie regelmäßig Opioide verordnen. Allerdings wussten nur 12,4 Prozent die richtigen Indikationen auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zu nennen. Viele würden Opioide verordnen, obwohl Leitlinien- Empfehlungen eindeutig davon abraten, zum Beispiel bei somatoformen Schmerzen.

Um eine Chronifizierung von Schmerzen zu verhindern, ist es wichtig, regelmäßig sportlich aktiv zu sein. Sinnvoll sind zudem multidimensionale bewegungs- oder arbeitsweltbezogene Interventionen, welche neben der Stärkung von körperlichen Ressourcen auch psychosoziale Aspekte mitberücksichtigen.

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