Die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, die im letzten Jahr vom Bundesgesundheitsministerium ins Leben gerufen wurde, erarbeitet Empfehlungen für eine Krankenhausreform. Die Ärztin Dr. Heidemarie Haeske-Seeberg ist in ihrer Eigenschaft als Qualitätsexpertin Mitglied dieser 17-köpfigen Kommission. Im Interview spricht sie über die Notwendigkeit einer Strukturreform, über Maßnahmen zur besseren Steuerung sowie über den Stellenwert der Qualität in der Versorgung.
Wie bewerten Sie die Rolle und den Einfluss der Kommission?
Dr. Heidemarie Haeske-Seeberg: Die Kommission wurde bewusst zusammengesetzt aus unterschiedlichen Professionen, was von großem Vorteil ist. Genauso bewusst wurden wir ermuntert, frei zu denken. Wir werden auch nicht beeinflusst durch das Ministerium oder andere Organisationen und sprechen auch nicht im Namen unserer Arbeitgeber. Stattdessen dürfen wir wirklich aus der Expertengruppe heraus Ideen generieren, was der Kommission eine besondere Position verleiht. Natürlich muss man auch in der Gruppe einen Konsens finden, denn unsere Stellungnahmen und Empfehlungen sind das Sprachrohr der gesamten Kommission. Aber es ist kein Minimalkonsens, wie man ihm oft notwendigerweise begegnet, wenn unterschiedliche Perspektiven und Ziele verschiedener Parteien zusammenkommen, etwa beim Gemeinsamen Bundesausschuss mit seinen unterschiedlichen Bänken.
Die dritte Empfehlung der Kommission vom Dezember letzten Jahres gilt als Grundlage für eine umfassende Reform der Krankenhausversorgung, die von der Koalition für 2023 angekündigt wurde. Wie notwendig ist diese Reform?
Wenn alles gut liefe, bräuchten wir erst gar nicht diese Kommission. Schon vor der Pandemie aber standen viele Krankenhäuser kurz vor der Insolvenz. Inzwischen ist die Notwendigkeit hierfür deutlich sichtbar, zumal weitere Probleme dazu kommen, etwa die hohen Energiepreise. Und wenn wir den Blick konkret auf die Versorgung lenken, dann zeigt sich, dass diese innerhalb Deutschlands ausgesprochen unterschiedlich ist, in manchen Indikationsbereichen unterscheiden sich die Bundesländer untereinander drastisch. Ob es sich immer um Überversorgung handelt, da muss man den Ursachen nachgehen. Fehlversorgung sehen wir bei Schlaganfällen und Herzinfarkten, die oft nicht dort behandelt werden, wo eine optimale Behandlung möglich wäre. Von daher macht es unbedingt Sinn darüber nachzudenken, wie das besser werden kann und wie wir unser Gesundheitssystem gestalten wollen. Und wenn man mich fragt, sollte Qualität einen höheren Stellenwert haben.
Wie steht es um die Qualität in der Krankenhausversorgung?
Generell schneiden viele Krankenhäuser gut ab, wie unsere Zahlen zeigen. Allerdings haben wir nicht über alle Aspekte Zahlen zur Verfügung, es gibt viele blinde Flecke. So gibt es beispielsweise für einen anständigen bundesweiten Vergleich mit ordentlich validierten Instrumenten keine Daten zu Patientenwahrnehmungen, also bezüglich der Fragen, ob Angebote wirklich auf die Patienten zugeschnitten sind. Wir sprechen hier von Erlebnisqualität beziehungsweise Patient-Reported Experience Measures, kurz PREMs. Es geht um die Wahrnehmung, wie Prozesse funktionieren. Und wir haben zwar Outcome-Parameter aus Sicht der Leistungserbringer, aber nicht aus Sicht der Patienten.
Woran liegt es, dass es solche Patientenbefragungen nicht gibt?
Zunächst wären Datenschutzgründe zu nennen. So stand der Klinik immer nur die Zeitspanne zur Verfügung, in der ein Patient dort behandelt wurde. Natürlich hätte es Wege gegeben, den Patienten nach dem Klinikaufenthalt zu befragen, aber das wäre ziemlich aufwendig und teuer. Grundsätzlich sind Kliniken schon lange angehalten, Patientenbefragungen zu machen, aber es ist natürlich einfacher, den Patienten zu fragen, wie ihm sein Essen geschmeckt hat, als gruppenspezifisch zu gucken, wie sein Outcome war. Dabei wären bestimmte Fragen sehr relevant für den Patienten und sein Erleben in der Klinik, zum Beispiel wie er die Aufnahme empfunden hat, wie man auf seine Schmerzen reagiert hat oder wie Befunde erklärt wurden. Aber Kliniken mussten solche Fragen nicht stellen. Erst vor wenigen Jahren hat der Gemeinsame Bundesausschuss für einige, wenige Indikationsgebiete den Auftrag erteilt, Patientenbefragungen zu entwickeln, die zum Beispiel auch solche Dinge abfragen, die im Patientenrechtegesetz verankert sind, etwa ob man über Behandlungsalternativen aufgeklärt und einem die Prognose erläutert wurde. Inzwischen ist man sich glücklicherweise weltweit auch einig, dass es der Patient ist, der das Outcome beurteilen kann.
Instrumente zur Qualitätssteigerung existieren ja bereits.
Eine ganze Reihe, beispielsweise Strukturvorgaben, Zweitmeinung, Qualitätsindikatoren, Mindestmengen. Manchmal aber hapert es an der Qualität der Instrumente selbst. Bei der Zweitmeinung beispielsweise wurde im Zuge der Einführung viel Aufwand betrieben, aber ich sehe den positiven Effekt nicht. Denn der Patient kann auch einfach im nächsten Quartal zu einem anderen Arzt gehen und eine zweite Meinung einholen. Anders bei den Mindestmengen: Das ist ein wichtiges, qualitativ gutes Instrument, aber hier hapert es an der Umsetzung. Die Mindestmengen werden festgesetzt und mit einer Vergütung verknüpft, woraufhin sich der Markt neu sortiert. Aber er sortiert sich nicht dahin, wo es vielleicht gut wäre, sondern die Patienten gehen vielleicht in eine Klinik, die gerade so die Mindestmenge schafft. Es findet also eine ungesteuerte Zentralisierung statt.
Wie beurteilen Sie die Qualitätsindikatoren?
Die existieren zum Teil schon seit 40 Jahren. Das macht sie nicht schlechter, aber die Frage ist, wie man in all der Zeit damit umgegangen ist. Die Bundesländer haben es unterschiedlich umgesetzt, etwa in welchem Maße man bei wie vielen Auffälligkeiten den Dingen nachgeht. Und viele Kliniken selbst gingen mit dem Schatz an Erkenntnissen nicht gut um. Das führt die Dinge ad absurdum. Wobei es schon auch viele Kliniken gibt, die ernsthaft mit den Ergebnissen arbeiten. Das hat sich auch insgesamt durchaus verbessert, seit es die Kontrollen vom Medizinischen Dienst gibt, die kontrollieren, ob die gemeldeten Daten mit den Angaben der Patientenakte übereinstimmen. Spätestens jetzt muss man anfangen, intensiv mit den Ergebnissen zu arbeiten. Man könnte auch darüber nachdenken, die Überprüfung bei Kliniken, die schon seit Jahren gute Ergebnisse vorweisen, eine Weile auszusetzen oder dass man sich nur ein paar Schlüsselindikatoren anguckt, das wäre auch ein Anreiz für andere Kliniken. Es sollten nicht alle derzeit vorhandenen Instrumente zur Qualitätssteigerung obsolet werden, sie haben teilweise großes Potenzial, weiterentwickelt zu werden. Daran arbeiten wir derzeit in der Kommission.
Die dritte Empfehlung der Kommission schlägt drei neue Kerninstrumente vor. Blicken wir zunächst auf das Instrument der Vergütung von Vorhalteleistungen.
Die Idee hinter diesem Instrument ist, den Leistungsanreiz abzumildern. Wenn ich eine bestimmte Bevölkerungsgruppe versorge, dann ist es wie bei der Feuerwehr, die bezahlt wird, auch wenn sie gerade nicht löscht. So müssen wir auch im Krankenhaus eine bestimmte Struktur vorhalten, etwa in der Notfallaufnahme oder auf der Intensivstation, unabhängig davon, wie voll sie sind. Es geht also nicht darum, wie viele Patienten durchgeschleust werden. Und es soll auch vermieden werden, dass Patienten auf der Intensivstation landen, nur damit diese ausgelastet ist. Zugleich bleibt ein gewisser Leistungsanreiz noch vorhanden, den wir auch bewusst erhalten haben, aber eben abgemildert.
Das zweite Instrument, die Versorgungsstufen, sieht drei verschiedene Level vor, die auf Krankenhäuser anzuwenden sind. Was hat das für die Kliniken zur Folge?
Wir schlagen vor, zwischen Grundversorgung, Regel- und Schwerpunktversorgung sowie Maximalversorgung zu unterscheiden. Wie sich diesbezüglich dann ein Krankenhaus einordnen oder umwidmen lässt, hängt davon ab, wo es heute steht, was es macht und kann. Es ist sinnlos, jedes kleine Krankenhaus hochzurüsten mit jeder Art von diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, das kann sich auch kein Bundesland leisten, zudem ist auch die Anzahl von Fällen nicht unendlich. Hier ist es zum einen wichtig, dass wir auf den Zusammenhang zwischen Menge und Qualität schauen. Dieser ist zwar unterschiedlich gut bewiesen, aber alleine der gesunde Menschenverstand sagt ja schon, dass je häufiger ich etwas mache, desto besser kann ich es auch. Zum anderen muss geschaut werden, wie viele Kliniken sich in einer Region befinden. In bestimmten Gebieten gibt es viele, in Berlin zum Beispiel. In ländlichen Gebieten dagegen gibt es weit weniger Krankenhäuser. Da muss entschieden werden, wie viele Kliniken welche Versorgungsstufe und welche Leistungsgruppe – das dritte Kerninstrument – bedienen müssen, damit Patienten adäquat versorgt werden und nicht zu weit für eine Behandlung fahren müssen. Wir müssen uns fragen, was ein Krankenhaus auszeichnet und an welchen Stellen besser zusammengearbeitet werden kann, etwa mit Arztpraxen, Physiotherapie-Angeboten, Sanitätshäusern. Den Bedarf an stationärer Versorgung kann man sehr weit nach unten schrauben, wenn man alle Angebote räumlich zusammenführt und die Grenzen zwischen ambulant und stationär durchlässiger macht. Und wir wollen ja mehr Ambulantisierung.
Wo liegen die Grenzen der Ambulantisierung?
Da kommen die bereits erwähnten Leistungsgruppen ins Spiel. Diese sollen genau definiert und entsprechend den Kliniken zugeordnet werden, sodass ein Patient, der intensiver behandlungsbedürftig ist, an eine Klinik überwiesen wird, die genau seinen Bedarf abdeckt. Durch die Leistungsgruppen wird erreicht, dass sich die Kliniken einer Versorgungsstufe jeweils in bestimmten Bereichen spezialisieren. Und dann ist die Nachsorge des Patienten womöglich auch wieder in einem kleineren Krankenhaus in Ortsnähe möglich oder eben ambulant. Dass muss natürlich gut organisiert und abgesprochen werden, gerade wenn man dies regelmäßig und bei vielen Krankheitsbildern machen möchte. Die Zusammenarbeit muss enger sein als bisher. Und wichtig zu bedenken ist auch, dass alle drei Kerninstrumente nur als Paket ihre Wirkung entfalten können.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass es so umgesetzt wird?
Die Erfahrung mit Kommissionen zeigt, dass immer etwas übrig bleibt. Wenn man solche Dinge aufschreibt, sind sie nicht mehr wegzudiskutieren. Das wird auch mit unseren Vorschlägen passieren. Auch wenn sie nicht auf den ersten Schlag umgesetzt werden, so verändern sie doch das System. Und dass etwas passieren muss, darüber sind sich alle einig. Im Moment ist es gut, wenn Bewegung reinkommt. Was unbedingt Not tut, ist, dass man jetzt bei der Ausarbeitung und Umsetzung der Reform neben den Ländern alle weiteren Player im Gesundheitswesen miteinbezieht. Sie alle werden ihre Interessen vertreten und letztlich muss man immer einen Kompromiss finden, anders geht es nicht. Und einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben ja schon ihren eigenen Weg eingeschlagen.
Wobei es schon auch Kritik aus Bundesländern gab.
Einige Bundesländer sind von den Reformvorschlägen weniger angetan als andere. Aber Fakt ist, dass Krankenhausplanung Ländersache ist und bleibt, da beißt die Maus keinen Faden ab. Wenn der Bund nun die Finanzierung verändert, was er tun kann, dann müssen die Länder am Ende des Tages unter diesen neuen Rahmenbedingungen eine Krankenhausversorgung sicherstellen. In gewisser Weise ist damit jedes Bundesland im Zugzwang und muss sich bewegen. Von daher bin ich guten Mutes, dass sich etwas tut. Und wenn die Länder am Ende für sich unterschiedliche Lösungen finden, ist das mit Blick auf den Föderalismus in Ordnung, solange die Patienten gut versorgt werden.
Eine Reform will auch finanziert werden. Aber die Länder kommen seit Jahren ihrer Verpflichtung zur Investitionskostenfinanzierung nicht nach.
Die Länder an dieser Stelle stärker in die Pflicht zu nehmen, wird schon lange gefordert, aber es passiert nicht. Ich denke, das muss politisch gelöst werden. Das, was wir vorhaben im Krankenhausbereich, braucht natürlich verstärkt Investitionen. Wenn man kleine Kliniken umbaut, mittelgroße Kliniken weiterentwickelt, dafür müssen wir Geld in die Hand nehmen. Das ist auch unstrittig. Es kommt aber wesentlich darauf an, wie wir das Geld investieren. Da braucht es von der Politik eine klare Richtung, einen Weg, bei dem alle mitziehen, sonst funktioniert es nicht.