Anfang 2023 hat Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha den Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) übernommen. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht er über seine Pläne als GMK-Vorsitzender, bewertet die Empfehlungen der Regierungskommission zur Krankenhausreform und erläutert die Bedeutung von Primärversorgungszentren für die wohnortnahe Versorgung.
Herr Lucha, Sie sind gelernter Krankenpfleger, haben einen Abschluss für Management im Gesundheitswesen. Was hat Sie in die Politik geführt?
Manfred Lucha: Ich habe mich in den 1970er Jahren als Jugendlicher politisch engagiert, in der aufkeimenden Anti-AKW-Bewegung, aber auch in der kirchlichen und gewerkschaftlichen Jugendarbeit. Da ich aus einer Industrieregion stamme, die – auch wenn man das in Bayern nicht vermutet – mit einer hohen Umweltbelastung verbunden war, wurde ich als 18-Jähriger Mitbegründer der regionalen und örtlichen Grünen in Bayern. Was meinen beruflichen Werdegang anbelangt, so bin ich nach meiner Ausbildung in der Chemieindustrie während des Zivildiensts von Oberbayern nach Oberschwaben übergesiedelt, wo ich in der Psychiatrie eine Ausbildung in der Krankenpflege absolvierte. Daraus resultiert unter anderem meine lebenslange Verbindung zur ambulantisierten Gesundheitsversorgung in der Psychiatrie.
Als Gesundheitsminister von Baden-Württemberg haben Sie Anfang des Jahres den Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) übernommen. Welche Akzente möchten Sie setzen?
Der Hauptakzent liegt auf der Zukunftsfähigkeit der Gesundheitsversorgung, allen voran auf der stationären Versorgung, allerdings mit starker Einbindung der sektorenübergreifenden Versorgung. Dies hatten wir im Koalitionsvertrag der Ampel verabredet, den ich für die grüne Seite mitverhandeln durfte. Da trifft es sich jetzt gut, dass Bundesminister Lauterbach die Ergebnisse der Regierungskommission schon vorgelegt hat und wir als GMK-Vorsitzland den Prozess moderierend begleiten. Zudem haben wir Vereinbarungen für eine strukturierte Bund-Länder-AG getroffen, in der wir Interessen und Zuständigkeiten so miteinander abstimmen, dass es am Ende ein gutes Ergebnis geben kann – und auch geben muss.
Welche Handschrift wollen Sie insbesondere aus Ihrem Bundesland einbringen?
Ich verstehe das Land Baden-Württemberg als Motor für sektorenübergreifende Versorgung und die Etablierung von Primärversorgungszentren. Wir sind bereits mit eigenen Modellprojekten in Vorleistung gegangen. Baden-Württemberg ist das Flächenland, das vermutlich bereits am mutigsten Krankenhausstandorte zukunftsfähig aufstellt, beispielsweise durch Kooperationen, aber auch Konzentrationen. Darüber hinaus haben wir den Arbeitsgruppenvorsitz der Bund-Länder-AG Langzeitpflege inne, um auch dort die Angebotsstruktur, die Rolle der Kommunen sowie die sektorenübergreifenden Leistungen auch in der Pflege zu stärken. Der dritte Bereich, in dem wir uns als Motor sehen, ist die Digitalisierung und das Nutzen telemedizinischer Möglichkeiten. Baden-Württemberg ist das erste Bundesland, das krankenhausplanerisch die personalisierte Medizin ausgewiesen hat. Hier wollen wir unsere Vorreiterrolle durch Best-Practice-Beispiele ausfüllen.
Ein herausforderndes Anliegen des Bundes und der Länder ist die Krankenhausreform. Wie stehen Sie zu den Empfehlungen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Versorgung?
An dieser Stelle möchte ich zunächst unser gutes Gesundheitssystem hervorheben und auch die guten Krankenhäuser, die wir hier in Deutschland haben. Aufgrund der Spezialisierung in der Medizin und den knappen Personalressourcen gibt es jedoch die Erkenntnis, nicht an jedem Ort alles machen zu können. Daher müssen Einheiten geschaffen werden, die in organisatorischer, personeller und wirtschaftlicher Hinsicht lebens- und leistungsfähig sind. Die schematische Skizzierung der Reform durch die Kommission erscheint uns in einigen Punkten plausibel, manches bewerten wir, auch aufgrund der guten Erfahrungen unserer eigenen Krankenhausplanung, aber anders. Wir kennen die Bedürfnisse unserer Bürgerinnen und Bürger vor Ort und wollen aus den Vorschlägen das Beste zusammenfügen. Krankenhausplanung ist aus gutem Grund Ländersache.
Die Reformansätze setzen auf eine stärkere Vereinheitlichung der Krankenhauslandschaft durch die Etablierung von bundeseinheitlichen Levels 1 bis 3 von Krankenhäusern von der Grundversorgung bis hin zur Maximalversorgung mit entsprechenden Mindestanforderungen und der Zuordnung von Leistungsgruppen (etwa Kardiologie). Ziel ist es, die Qualität zu verbessern – nicht jedes Krankenhaus soll jede Leistung erbringen. Die Länder halten zum Teil deutlich dagegen. Besteht nicht die Gefahr, dass der Flickenteppich in der Krankenhauslandschaft weiter fortbesteht?
Die Frage ist doch, wie der Begriff Flickenteppich gemeint ist. Für Menschen in Südbaden ist es unerheblich, wie die Krankenhausstruktur an der Grenze zu Polen ist, weil sie diese nie in Anspruch nehmen werden. Die Bürgerinnen und Bürger nutzen die ambulanten und stationären Strukturen, die sie in ihrer Region vorfinden. Natürlich muss die Qualität einer Leistung bundesweit vergleichbar sein, das gilt auch für die Umsetzung und Konstruktion zwischen Leistungsgruppen, Leveln oder Angebotstypen. Aber in welcher Kombination der Disziplinen die Krankenhäuser aufgestellt sind, muss vor Ort entschieden werden. Die Krankenhausplanung muss Sache der Länder bleiben.
Stichwort Finanzierung: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass durch die Krankenhausreform ungeachtet des ohnehin hohen Ausgabenniveaus auch im internationalen Bereich alles noch viel teurer werden könnte?
Was die Kosten anbelangt, verdienen heute vor allem die Krankenhäuser, die Fehlanreize haben. Das ist ein Grund dafür, warum ein Krankenhaus, das sich beispielsweise auf Endoprothetik spezialisieren konnte, durch eine große Anzahl an Behandlungen und Operationen gute Ertragszahlen erreicht, aber die Basismedizin nicht finanziert ist. Ganz besonders deutlich wird das in der Pädiatrie. Das müssen wir ändern. Es ist die Grundidee der Reform, über das Entgeltsystem keine Fehlanreize zu schaffen. In den vergangenen Jahren sind wir übrigens auch nicht untätig gewesen und haben in den zuständigen Gremien über Planungsausweisungen zusammen mit den Krankenkassen und den Landeskrankenhausausschüssen die Angebotsstrukturen angepasst.
Also, Sie meinen, es sind längerfristig Effizienzreserven zu erzielen. Dennoch muss doch zunächst erst einmal in den Umbau der Krankenhauslandschaft investiert werden.
Hier ist sicherlich auch die gesetzliche Krankenversicherung gefordert. Deshalb brauchen wir ja auch dringend eine nachhaltige Stabilisierung der Finanzen der GKV. Leider zeigt Bundesfinanzminister Christian Lindner hier derzeit noch wenig Bereitschaft. Im Koalitionsvertrag wurde beschlossen, die höheren Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld, dem vormaligen Arbeitslosengeld II, aus Steuermitteln zu finanzieren und nicht aus der GKV, was immerhin zu Einsparungen von zehn Milliarden Euro jährlich führen würde. Wenn wir hier nicht helfend eingreifen, werden wir immer eine unwürdige Debatte der Leistungsbelastung haben. Daher sehe ich hier mittlerweile Bundeskanzler Scholz in der Pflicht.
Wie sieht es mit der Investitionsfinanzierung der Länder aus? Die Länder kommen ihrer Verpflichtung zur Investitionsfinanzierung seit Langem nicht im ausreichenden Maße nach. Müsste das nicht angesichts des Gesamtreformkonzepts vereinheitlicht werden?
Wir sind ein Bundesland, das seine Investitionskosten und Investitionsmittel seit der Regierungsübernahme durch das Kabinett Kretschmann I im Jahr 2011 deutlich erhöht hat und auf hohem Niveau weiterentwickeln muss. Gute Versorgungspolitik sollte immer mit zukunftsfesten Investitionen einhergehen, denn schon heute müssen die Angebote in fünfzehn Jahren antizipiert werden. Diese Krankenhausreform gibt uns die Chance, auch baulich das Richtige zu tun und die Größenordnungen richtig einzuschätzen. In dieser Hinsicht war es gut, dass der Bund diverse Struktur- und Zukunftsprogramme aufgelegt hat, die Länder wie Baden-Württemberg konsequent kofinanziert haben. Die Länderhaushalte sind allerdings unterschiedlich aufgestellt, zudem sind den Bundesländern bezüglich der eigenen Finanzkraft Grenzen gesetzt. Wie Sie wissen, stemmen vor allem Bayern und Baden-Württemberg den Finanzkraftausgleich. Im Grunde müssen die Landesregierungen selbst nach Lösungen suchen. Kleinere Bundesländer, etwa in der Nähe zu Stadtstaaten, könnten hier durchaus auch im Kollektiv agieren.
Drei Länder haben schon angekündigt, die Krankenhausreform auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Unterstützen Sie diesen Vorstoß?
Wir haben uns diesem Vorgehen bewusst nicht angeschlossen, weil wir bisher der Meinung sind, dass der laufende Prozess gut und konstruktiv ist. Sicherlich ist es eine enorme Herausforderung, die Kräfte zu bündeln. Man kann das aus meiner Sicht durch Länderöffnungsklauseln regeln. So bleibt die verfassungsgemäße Planungshoheit der Länder gewahrt. Ich appelliere allerdings dafür, diese Frage politisch und nicht gerichtlich zu lösen.
Kommen wir auf die sektorenübergreifende Versorgung zu sprechen. Im Reformkonzept der Gesundheitsreform ist die Level I-Stufe vorgesehen, um die Grundversorgung und ihre Verzahnung zum ambulanten Bereich sicherzustellen. Entspricht das dem Konzept der Primärversorgungszentren, das Sie in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht haben?
Wie Sie wissen, plant Bundesminister Lauterbach demnächst die Versorgungsgesetze 1 und 2 vorzulegen – und wir wollen, dass die Primärversorgung vorgezogen und definiert wird. Es muss hybride Leistungsmöglichkeiten geben, damit wir nicht mehr zwischen ambulant und stationär unterscheiden müssen. Dahinter steht der Gedanke der Ambulantisierung, der sich aus beiden Teilen speist. Das kann im Einzelfall schon auch einmal ein Level Ii Krankenhaus sein. Alleine auf diese Struktur zu setzen, wäre aus meiner Sicht aber nicht sachgerecht und zu einseitig gedacht.
Das heißt, Sie würden Ihre Primärversorgungssysteme durch eine stationäre Basis ergänzen.
Genau, wir würden sie wo nötig quasi „hineinkonzipieren“. Wir sind in Baden-Württemberg jetzt mit zehn Primärversorgungszentren gestartet und wollen sie weiter ausbauen. Es ist, um das provokativ zu sagen, kein Konzept für Restekrankenhäuser, die im Prinzip nicht bedarfsnotwendig sind, sondern ein Konzept, um den Bedarf der Bürgerinnen und Bürger zu decken. Deren größte Sorge ist doch, dass sie sich beim späten Abendvesper tief in den Finger schneiden und keiner versorgt sie. Das sind sehr seltene, aber durchaus auftretende Konstellationen. Und dafür brauchen wir Sicherheit, aber sicherlich nicht immer das große Besteck.
Können Sie kurz schildern, nach welchen Kriterien Sie diese Primärversorgungszentren aufgebaut haben?
Der Grundgedanke geht über das reine medizinische Versorgungszentrum hinaus. Wir fordern zum Beispiel eine Navigation und ein Case Management für Personen, die sich schwertun, durch ein System mit multidisziplinären Strukturen, Gesundheitsleistungen, ärztlichen Leistungen und pflegerischer Beratungsleistung zu navigieren. Auch müssen wir Pflege, andere therapeutische Berufe und natürlich auch mehrere ärztliche Disziplinen bündeln.
Haben Sie schon Erfahrungen damit, wie das bei den Menschen ankommt?
Wir haben vor rund einem Jahr mit den ersten Modellprojekten begonnen, im Laufe dieses Sommers erwarten wir erste konkrete Zwischenberichte. Woran es noch hakt, ist, dass es noch keine verbindlichen Genesungsbetten für mehrere Tage gibt. Das wollen wir mit dem Versorgungsgesetz verbessern. Problematisch sind auch Kooperationsverbote und Compliance-Richtlinien. Wir hatten in einem Primärversorgungszentrum tatsächlich das Problem, dass die Physiotherapiepraxis und die Arztpraxis keinen gemeinsamen Wartebereich nutzen durften wegen der Compliance-Vorgaben. So lassen sich Kräfte natürlich nicht bündeln.
Sie kennen ja sicher unser vdek-Modell der Regionalen Gesundheitszentren (RGZ), das sehr ähnlich konzipiert ist.
Ja, und im Prinzip müssen wir uns definitorisch noch auf eine Begrifflichkeit verständigen. Die Primärversorgung ist keine reine ärztliche Fixierung, sondern lebt auch von der eben beschriebenen Navigation und der Zusammenarbeit mehrerer Berufsgruppen im Team. Zudem sollen Primärversorgungszentren Mehrfachdiagnosen verhindern.
Eine weitere Säule, die in der Diskussion ist und im Koalitionsvertrag steht, sind die Gesundheitskioske. Wie ist Ihre Haltung als Vertreter der Grünen dazu?
Dem Bundesgesundheitsminister war das wichtig, aber wir haben uns in unserem Bundesland für andere Strukturmodelle entschieden. Ich glaube, da wird es keinen Wettbewerb geben. An solchen Orten, an denen es soziokulturell passt, ist die Kioskidee sicher einen Versuch wert. Aber wir in Baden-Württemberg konzentrieren uns auf die Primärversorgung.
Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. (2. Ausgabe 2023)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Interview mit Uwe Klemens, ehrenamtlicher Verbandsvorsitzender des vdek
„Die Sozialwahl ist eine Erfolgsgeschichte mit Zukunft“
-
-