Sozialwahl 2023

Zur rechtlichen Zulässigkeit einer Online-Wahl

In Deutschland wird seit geraumer Zeit darüber nachgedacht, Sozialwahlen auch als Online-Wahlen durchzuführen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Eine Online-Wahl bedarf gewisser Voraussetzungen, vor allem in Bezug auf die Sicherheit des Wahlvorgangs; jenseits dessen aber ist ein solches Vorgehen schon jetzt rechtlich zulässig, wird in anderen Rechtsbereichen längst praktiziert und sollte nun auch für die wichtigen Sozialwahlen dringend eingeführt werden.

Illustration: Online-Wahl; Personen gehen zum Briefkasten, Frau sitzt vor dem Computer

Bei der Sozialwahl, der drittgrößten Wahl in Deutschland nach den Bundestags- und Europawahlen, sind die Mitglieder der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenkassen aufgerufen, ihre Vertreter zu bestimmen, die für sie in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung bei den wichtigen Entscheidungen mitwirken. Angesichts der geringen Wahlbeteiligung (Sozialwahl 2017: 30,42 Prozent) wäre es an der Zeit für Reformen; im Koalitionsvertrag der letzten Bundesregierung war das sogar festgehalten, wurde dann aber nicht umgesetzt. Wenn es schon nicht zu einer grundlegenden Reform kommt, könnte der Gesetzgeber gleichwohl mit neuen Instrumenten die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an ihren Sozialversicherungen stärken – wie z. B. der Einführung von Online-Wahlen neben der bisherigen Briefwahl. Zugleich würden die Vorstellungen eines bürgernahen und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzenden Wahlvorgangs erheblich gesteigert. Rund 50 Millionen Sozialversicherte könnten bei der nächsten Sozialwahl 2023 davon profitieren.

Sozialwahlen müssen wie alle anderen Arten von Wahlen den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Durchführung von Wahlen genügen. Das Verfassungsrecht hält sich allerdings mit allgemeinen Vorgaben weitgehend zurück; verfassungsrechtlich verankert sind nur die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 GG für die parlamentarische Wahl. Diese lassen sich aber nur in begrenztem Umfang auch auf andere Wahlen, insbesondere die Wahlen im Rahmen der Selbstverwaltung, übertragen. Die Maßstäbe setzt zunächst einmal das sogenannte Wahlcomputer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2008, das allerdings die Wahl zum Bundestag und gerade nicht Sozialwahlen betraf. Selbst bei dieser Wahl sieht das BVerfG grundsätzlich eine Online-Wahl als möglich an, setzt aber einige besondere Grenzen zur Ausgestaltung.

Zentraler Ansatzpunkt für Grenzen des Einsatzes von Wahlcomputern war der sogenannte Öffentlichkeitsgrundsatz der Wahl aus Art. 38 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Zunächst stellt das BVerfG ausdrücklich fest, dass „der Gesetzgeber […] nicht gehindert [ist], bei […] Wahlen elektronische Wahlgeräte einzusetzen, wenn die verfassungsrechtlich gebotene Möglichkeit einer zuverlässigen Richtigkeitskontrolle gesichert ist“. Diese Kontrolle sieht das BVerfG dann als gegeben an, wenn „beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte […] die wesentlichen Schritte der Wahlhandlungen und der Ergebnisermittlung [aber] vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnisse überprüft werden können“. Öffentlichkeit der Wahl ist also grundsätzlich gewahrt, wenn die Wahl selbst, das Ergebnis der Wahl insgesamt sowie die prinzipielle Berücksichtigung der einzelnen Stimme überprüft werden können. Durch diese Kontrollmöglichkeit soll das Vertrauen in die Wahl und in das korrekte Zustandekommen des Ergebnisses gestärkt werden. Online-Wahlen für die Sozialwahl sind in diesem Sinne verfassungsrechtlich möglich.

Erstens bezieht sich das Urteil auf die Wahl des Bundestages als zentralem Mitwirkungsakt des Volkes an der Wahl seiner Volksvertreter für die Gesetzgebung. Damit findet es nicht ohne Weiteres Anwendung auf andere Wahlen und Wahlformate – etwa die Online-Sozialwahl. Denn die Sozialwahl sichert die Mitwirkung an der funktionalen Selbstverwaltung der Sozialversicherung, also eine Mitwirkung an der Verwaltung und nicht etwa an der deutlich höher zu gewichtenden Bestimmung des Gesetzgebers.

Zweitens sind Online-Wahlen vom Einsatz von Wahlcomputern abzugrenzen – nur damit befasste sich das Urteil des BVerfG. Online-Wahlen, wie sie bei der Sozialwahl durchgeführt werden könnten, sind keine Präsenz-, sondern eine besondere Möglichkeit der Fernwahl, nämlich über das Internet. Online-Wahlen sind also vergleichbar mit der Briefwahl. Für diese Fernwahlen gelten andere Grundsätze der Öffentlichkeit – ansonsten könnte es etwa eine Briefwahl gar nicht geben.

Drittens gilt der Öffentlichkeitsgrundsatz für Sozialwahlen ohnehin nur eingeschränkt. Die Wahlrechtsgrundsätze gelten unmittelbar nur für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Außerhalb des Grundgesetzes, etwa bei Wahlen zu Organen der Selbstverwaltung bei Sozialversicherungsträgern, kommt ihnen darum nur eine abgeschwächte Wirkung zu. Die Sozialwahlen werden ohnehin als Briefwahl durchgeführt, also als Fernwahl. Der Unterschied zwischen Brief- und Onlinewahl ist dann, dass ein anderes Kommunikationsmedium genutzt werden kann – und zwar eines, das schon heute den hergebrachten Brief in vielen Bereichen abgelöst hat.

Viertens kann der Öffentlichkeitsgrundsatz ohnehin eingeschränkt werden, z. B. um eine hohe Wahlbeteiligung zu sichern. Dies hat das BVerfG bereits entschieden. Es müssen nicht sämtliche Handlungen im Zusammenhang mit der Ermittlung des Wahlergebnisses unter Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden, damit ein begründetes Vertrauen in die Richtigkeit der Wahl geschaffen wird. An der jahrzehntelangen, vom BVerfG bestätigten Praxis der Briefwahl ist dies ablesbar. Denn damit soll eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung erreicht werden, damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung getragen wird, also möglichst viele Bürgerinnen und Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Dieses Argument gilt auch zugunsten einer Online-Sozialwahl, und zwar erst recht angesichts der zurückgenommenen Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes: Denn es können damit mehr Bürgerinnen und Bürger erreicht werden, und mehr Bürgerinnen und Bürger können von ihrem Wahlrecht und damit ihrer Mitwirkung an der funktionalen Selbstverwaltung zu ihrer sozialen Sicherung Gebrauch machen. Damit wird deren Bedeutung gestärkt. 

Fünftens ist auch technisch eine verfassungskonforme und IT-sichere Umsetzung möglich und zertifizierte Software-Lösungen existieren bereits. Auch die einschlägigen Institutionen, z. B. das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), sind der Ansicht, dass Online-Wahlen zulässig sind und ausreichend sicher gestaltet werden können, zumal solche Wahlen in anderen Rechtsbereichen, auch im Sozialrecht, bereits erfolgreich durchgeführt wurden. 

Eine Online-Wahl zur Sozialwahl kann also rechtskonform und im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG durchgeführt werden. Der Gesetzgeber sollte jetzt zügig voranschreiten, noch können die Zeiträume bis zur Sozialwahl 2023 dafür genutzt werden, erstmals diese Option zusätzlich zur bisherigen Briefwahl vorzusehen. Eine Online-Wahl ermöglicht eine zeitgemäße Beteiligung an den Wahlen, sichert die Wahrung der Allgemeinheit der Wahl und damit das Konzept der Selbstverwaltung.

http://www.jura.uni-frankfurt.de/80805878

Weitere Artikel aus ersatzkasse magazin. 4. Ausgabe 2019