Sozialwahl: Interview mit Jörg Ide und Holger Schlicht

„Wenn die Politik will, könnten wir 2023 online wählen“

Jörg Ide und Holger Schlicht verantworten als Hauptamtliche die Koordination und Durchführung der Sozialwahl für insgesamt mehr als zwölf Millionen Wahlberechtigte. Sie vertreten die Ersatzkassen in der gemeinsamen Arbeitsgruppe der urwählenden Träger zum Thema Online-Wahlen. Im Interview erläutern sie, warum sich in Sachen Online-Wahlen politisch endlich etwas bewegen muss, damit die im Koalitionsvertrag zugesagte Modernisierung der Sozialwahl keine folgenlose Absichtserklärung bleibt.

Jörg Ide, Holger Schlicht
Jörg Ide, Geschäftsbereichsleiter Verwaltungsrat und Vorstand bei der Techniker Krankenkasse, und Holger Schlicht, Referent in der Geschäftsstelle des Verwaltungsrats der DAK-Gesundheit (von links nach rechts)

2019 ist die Sozialwahl zurück auf der politischen Agenda. Wo steht die Politik derzeit in Sachen Einführung von Online-Wahlen?

Jörg Ide Wir haben derzeit die absurde Situation, dass wir einerseits für eine zusätzliche Online-Wahloption so viel politischen Rückenwind haben wie noch nie, es andererseits aber nicht vorangeht, weil sich die Ministerien die Bälle zuspielen, anstatt die Vorgaben des Koalitionsvertrags umzusetzen. 

Holger Schlicht Im Augenblick erleben wir eine politische Hängepartie. Das eigentlich zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat in Bezug auf Online-Wahlen keine abschließende Entscheidung getroffen, sondern das Thema zur Prüfung an das Bundesinnenministerium (BMI) weitergegeben. 

Warum? 

Jörg Ide Das Innenministerium soll nun zunächst klären, ob die Sozialwahl einer parlamentarischen Wahl entspricht, wie beispielsweise der Bundestagswahl. Damit wären die Hürden für die Einführung von Online-Wahlen deutlich höher, weil für parlamentarische Wahlen das Grundgesetz greifen würde. 

Holger Schlicht Diese Einschätzung teilen wir ganz und gar nicht: Die Sozialwahl ist zwar gemessen an den Wahlberechtigten nach der Bundestags- und der Europawahl die drittgrößte Wahl des Landes, aber eben keine parlamentarische Wahl. Sie wird entsprechend im Vierten Buch des Sozialgesetzes (SGB IV) und in der Wahlordnung geregelt. Deshalb muss genau da auch die Politik ansetzen, anstatt nun die Anzahl der beteiligten Ministerien zu erweitern. 

Die Sozialwahl zu modernisieren, steht nicht zum ersten Mal in einem Koalitionsvertrag. Für wie realistisch halten Sie die Einführung von Online-Wahlen und was bedeutet das für die anstehende Sozialwahl im Jahr 2023?

Jörg Ide Wenn der politische Wille da ist, ist es durchaus noch möglich, dass die über 50 Millionen Wahlberechtigten 2023 erstmalig zusätzlich auch online abstimmen dürfen. Dafür brauchen wir aber noch in diesem Jahr eine politische Entscheidung und dürfen keine weitere Zeit verlieren. 

Wodurch ergibt sich diese Dringlichkeit? 

Holger Schlicht Es muss sofort losgehen, denn bis spätestens Ende Januar 2020 muss das entsprechende Vorschaltgesetz in Kraft treten. Dieses beauftragt die Bundesbehörden mit der notwendigen Vorbereitung. Die entsprechenden gesetzlichen Änderungen wiederum müssen dann bis spätestens Mitte 2020 greifen - sonst ist die Chance für das Wahljahr 2023 vertan. Wenn wir uns die üblichen Zeitrahmen für Gesetzgebungsprozesse anschauen, ist das schon ein knappes Zeitfenster. Allerdings muss die Politik nicht bei null anfangen – immerhin haben wir urwählenden Träger bereits umfassend analysiert, welche Änderungen in SGB IV sowie der Wahlordnung für die Sozialversicherung nötig wären. Diese Information haben wir den zuständigen Ministerien und Behörden bereits vor geraumer Zeit vorgelegt. 

Wie bereiten Sie sich bei den Ersatzkassen vor? 

Jörg Ide Unsere gemeinsame Arbeitsgruppe der urwählenden Träger der Sozialversicherung arbeitet bereits seit Monaten mit Hochdruck daran, alle technischen und juristischen Rahmenbedingungen für 2023 zu schaffen. Und wir bringen uns aktiv in die Diskussion ein, damit diese längst fällige Modernisierung nicht in den Mühlen der Verwaltung auf der Strecke bleibt. 

Holger Schlicht Auf uns Kassen kommt natürlich ein erheblicher Aufwand zu. Zunächst müssen bis Ende September 2020 bei allen beteiligten Selbstverwaltungen der Träger genehmigte Satzungsentscheidungen des Bundesversicherungsamtes (BVA) vorliegen, um diese Wahloption zu ermöglichen. Dann steht die Gründung einer Pflicht-Arbeitsgemeinschaft an, schließlich soll es eine gemeinsame Lösung geben. Das muss natürlich mit dem BVA abgestimmt werden. Diese Arbeitsgemeinschaft kümmert sich dann um die europaweite Ausschreibung für eine qualifizierte und zertifizierte Wahlsoftware. Allein dafür benötigen wir einen großen zeitlichen Vorlauf. Und schließlich gilt es, diese Software auf die Systeme der einzelnen Träger anzupassen, damit das Zusammenspiel von Online- und Briefwahl auch sicher funktioniert. Dieser Aufwand ist aber absolut gerechtfertigt.

Warum? 

Jörg Ide Ein wichtiges Ziel ist, die Sozialwahl auch für jüngere Wähler attraktiver zu machen. Außerdem können wir nicht einerseits die Digitalisierung des Gesundheitswesens überall vehement einfordern und sie anderseits an dieser zentralen Stelle des deutschen Gesundheitssystems blockieren. Und ganz zentral: Wir folgen damit auch dem Wunsch eines Großteils der Wähler, wie Umfragen gezeigt haben. 

Holger Schlicht Mittel- bis langfristig können wir über die Online-Option auch die Wahlkosten senken, das Porto für die Briefwahl macht hier bislang den Löwenanteil aus.

Grafik: Zeitplan Online-Wahl Sozialwahl

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