Die erste Welle der Corona-Pandemie hat Deutschland vergleichsweise gut überstanden. Mit der dunklen Jahreszeit steigen die Infektionszahlen wieder, die Politik erlässt Beschränkungen, will aber drastische Maßnahmen verhindern.
Prof. Dr. Uwe G. Liebert war bis zu seinem Ruhestand im Oktober 2020 Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Leipzig. Er spricht im Interview mit ersatzkasse magazin. über die Erfahrungen mit Pandemien, den Umgang der Bevölkerung mit dem Coronavirus sowie den Sinn von Maßnahmen.
ersatzkasse magazin.: Wie haben Sie die letzten Monate am Universitätsklinikum erlebt?
Uwe G. Liebert: Ab Mitte Januar dieses Jahres war uns Virologen klar, dass Corona eine Herausforderung wird. Ab Februar ging es richtig los, der Bedarf an Tests stieg rapide an, unser Klinikum bekam waschkörbeweise Proben, bis zu 800 Stück mehrfach am Tag. Die operativen Tätigkeiten wurden stark zurückgefahren, die Auslastung der Bettenkapazität lag nur noch bei höchstens 60 Prozent. Zugleich wurde eine Reihe von Corona-Patienten an uns überwiesen. Am Universitätsklinikum Leipzig wurde eine Station zu einer Corona-Station sowie eine weitere zu einer Triage-Zone umfunktioniert, also zu einer Art Zwischenunterkunft für Patienten, auf deren Testergebnisse man noch wartete. Es gab viele Corona-Patienten, die nur milde Symptome aufwiesen, aber wir hatten auch viele ältere von Corona betroffene Menschen, von denen nicht wenige auf die Intensivstation kamen.
Was unterscheidet diese Corona-Pandemie von anderen Pandemien?
2002 trat BSE auf, 2003 das erste SARS-Coronavirus, 2009 die Schweinegrippe. Bei diesen früheren Pandemien kannten wir die Erreger schon, sicherlich nicht im Detail, aber wir wussten, wohin der Hase läuft. Das aktuelle Coronavirus war in dem Sinne etwas Neues, das wir überhaupt noch nicht kannten, abgesehen von vier saisonalen Coronaviren, die seit mehr als 30 Jahren bekannt sind, immer im Winter auftauchen und mit ganz wenigen Ausnahmen keine schwere Erkrankungen nach sich ziehen. Wir Virologen haben schon immer vor einer weiteren Pandemie gewarnt, weshalb auch 2009 die Pandemiepläne eingerichtet wurden, allerdings nicht vollständig umgesetzt, wie sich jetzt herausstellte. Dazu zählt zum einen insbesondere die lokale und überregionale Vernetzung von Krankenhäusern und zum Zweiten eine angemessene Ausstattung – Digitalisierung, personale Ressourcen – der Gesundheitsämter.
Wurde das Coronavirus zu Beginn verharmlost?
Wir wussten einfach zu wenig. Als es mit Corona in Europa losging, gab es rund 80.000 Infizierte in Wuhan, mehr als elf Millionen Menschen waren in Quarantäne, Todesfälle gab es nur wenige. Als Corona Deutschland erreichte, verzeichnete man offiziell ungefähr 600 Todesfälle weltweit. Das war zwar eine relativ hohe Anzahl und vor allem unerwartet, aber es war auch nicht dramatisch. Was sich ziemlich schnell herausstellte war, dass 80 Prozent der älteren Menschen einen schweren Verlauf aufwiesen, ganz anders als bei Kindern und jüngeren Menschen bis 30. Gefährdet waren also vor allem alte Menschen. Allerdings zeigt die nun ansteigende zweite Welle, dass wir alle dazugelernt haben und insbesondere die älteren Menschen, deren Infektionszahlen gottlob nun recht gering sind, und daher gar nicht mehr so sehr die „Alten“ von Corona betroffen sind.
Woran liegt das?
Ich behaupte, dass die Älteren gelernt haben, dass sie Risikogruppe sind und dass sie wissen, wie sie sich schützen können. Man spricht ja von der AHA-Formel: Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen. Die Maske ist das Wichtigste. Sie ist der beste Schutz für diejenigen, die sich nicht infizieren wollen, und die beste Maßnahme für diejenigen, die infiziert sind, da sie so ein viel geringeres Risiko für andere darstellen. Daher ist die Maskenpflicht in bestimmten Situationen richtig. Das Zweite ist Abstand halten, auch wichtig, ganz klar. Nur wissen wir gar nicht, ob es anderthalb, zwei oder sechs Meter sein müssen. Da hantieren wir mit mehr oder weniger gegriffenen Zahlen, und das wird weiter untersucht im Zuge der Aerosol-Forschung, was wir an unserem Institut sehr intensiv machen. Und das Dritte ist die Händehygiene. Auch sie ist wichtig, aber steht hinsichtlich der Verbreitung des Virus nicht an erster Stelle. Kürzlich wurde der Formel das L für Lüftung hinzugefügt. Um die Konzentration der Viren zu vermindern, ist regelmäßiges Stoßlüften auf jeden Fall sinnvoll.
Dennoch steigen die Infektionszahlen. Worauf führen Sie das zurück?
Weil ich mit offenen Augen durch die Stadt gehe, sehe ich beispielsweise im Supermarkt große Menschengruppen an der Fleischtheke stehen, einige tragen ihre Maske unterhalb der Nase oder haben sie sogar am Kinn hängen und da kann man es gleich vergessen. Meiner Wahrnehmung nach sind es überwiegend die 30- bis 50-Jährigen, die ihre Maske unsachgemäß tragen. Während ältere Menschen sowie Schüler ihre Masken inzwischen wie selbstverständlich tragen. Diese Disziplin würde ich mir von allen wünschen. Denn wenn wir wissen, wie wir uns schützen können – was wir im Frühjahr noch nicht gut genug wussten –, dann gibt es für mich beispielsweise auch keine zwingende Notwendigkeit, Angehörige aus den Pflegeheimen fernzuhalten. Sicherlich sind Beschränkungen sinnvoll und nötig, aber keine allgemeine Aussetzung der Besuchsmöglichkeiten. Denn gerade ältere Menschen brauchen Kontakt und Austausch. Im Krankenhaus sieht es mit Besuch allerdings anders aus, weil es dort akut kranke Menschen gibt.
Wie stehen Sie zu einer Lockerung der Maßnahmen?
Wir sollten keinen Wettbewerb der Lockerungsübungen veranstalten. Das ist ein dringender Appell an die Politiker. Der Allgemeinbevölkerung wäre viel leichter zu vermitteln, dass wir den ersten Ansturm der Corona-Pandemie in Deutschland ganz gut geschafft haben und dass wir das jetzt nicht aufs Spiel setzen können, indem wir alles Mögliche wieder erlauben. Sinnvoll wäre es gewesen, von vornherein zu sagen, dass man nicht in Risikogebiete fährt, also ein Reiseverbot statt einer Reisewarnung. Allerdings ist auch wichtig zu vermitteln, dass es nicht sinnvoll ist, in Panik zu verfallen. Viel zu viele Menschen haben viel zu viel Angst, und zwar unbegründete oder nur teilweise nachvollziehbare Angst. Aber Angst war nie ein guter Ratgeber. Sinnvoll ist zu fragen, was wir – und ich meine damit jeden Einzelnen von uns – tun können, um uns zu schützen und das Infektionsrisiko zu minimieren.
Diskutiert wird, ob es flächendeckende oder regional ausgerichtete Beschränkungen geben soll.
Ich bin für einheitliche Regeln für ganz Deutschland und keinen Flickenteppich. Wenn es einzelne Land- oder Stadtkreise gibt mit auffällig hohen Infektionsraten, muss es für diese verschärfte Regeln geben. Ich halte es auch aus Solidaritätsgründen für richtig, dass wir Bedingungen, die zum Beispiel in Bayern oder Nordrhein-Westfalen notwendig sind, auch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen durchführen; wohlwissend, dass Mecklenburg-Vorpommern massiv abhängig ist vom Tourismus. Natürlich ist es schwer nachvollziehbar, wenn es in Regionen mit wenigen Fällen genauso scharfe Maßnahmen gibt wie in Regionen mit hohen Infektionszahlen. Aber ein Herd von Infektionen kann überall entstehen. Und wir wollen keinen weiteren landesweiten Lockdown, das ist ganz klar.
War im Rückblick der Lockdown richtig?
Da bin ich sehr nah bei den Politikern, in diesem Fall Gesundheitsminister Jens Spahn, der sagte, dass man in der Rückschau natürlich einiges anders machen würde. Wir haben dazu gelernt und neue Erkenntnisse gewonnen. Aber im März haben wir gesehen, wie die Erkrankungszahlen explodierten. Stellen Sie sich vor, es hätte keinen Lockdown gegeben und es wären weitaus mehr Menschen erkrankt und verstorben. Wissen Sie, die Leute, die da entscheiden müssen, in deren Haut möchte ich nicht in jedem Fall stecken. Im Prinzip versuchen sie, das zu tun, was zum jeweiligen Zeitpunkt richtig und wichtig erscheint, und das ist gut so.
Was halten Sie von der Corona-Warn-App sowie dem diskutierten Immunitätsausweis?
Die Corona-Warn-App halte ich für gut und nutze sie auch. Sie dient der Rückverfolgbarkeit und je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto besser. Den Immunitätsausweis halte ich dagegen zum jetzigen Zeitpunkt für unsinnig. Die Immunität macht man am Nachweis von Antikörpern fest. Jedoch haben wir in unserem Patientengut bei einem Drittel der nachweislich infizierten Patienten zu keinem Zeitpunkt Antikörper gefunden. Was bedeutet, dass eine Immunität zumindest nicht leicht nachweisbar ist, wenn man sie denn überhaupt bekommt. Bei fast einem zweiten Drittel sehen wir nach acht, zehn, zwölf Wochen, dass der Antikörperspiegel progressiv und deutlich absinkt und zum Teil sogar unter die Nachweisgrenze.
Menschen könnten sich also erneut infizieren?
Viele Länder haben inzwischen gezeigt, dass es Zweitinfektionen gibt, teilweise sogar Drittinfektionen. Eine Patientin bei uns hatte Antikörper und hat sich trotzdem nach ungefähr acht Wochen neu infiziert. War es eine chronische Infektion, die wir nicht erkannt haben, oder eine echte Zweitinfektion? Das untersuchen wir jetzt, indem wir Virusproben aus der ersten und zweiten Infektion vergleichen und schauen, ob diese noch identisch sind.
Es heißt, dass sich ein Virus ein Stück weit anpasst an die Gesellschaft. Schwächt es sich mit der Zeit selbst oder kann unser Körper besser damit umgehen?
Es gibt sehr viele Beispiele, dass sich ein Virus durch Mutationen an seinen Wirt, also den Patienten, angepasst hat. Das Virus will seinen Wirt nicht umbringen, sonst kann es sich ja nicht weiter vermehren. Letztlich geht es um ein parasitäres Wachstum, Virus und Wirt müssen sich miteinander arrangieren. Das ist dann gegeben, wenn das Virus den Wirt krank macht, aber nicht letal schädigt.
Ein gutes Signal…
Trotzdem muss man es genau betrachten. Nehmen wir das Beispiel AIDS-Virus, das uns seit gut 40 Jahren bekannt ist. Die Menschen haben alles getan, damit sich das Virus möglichst wenig durch Mutation an den Menschen anpassen kann. Denn wir nutzen alle Möglichkeiten der Therapie, glücklicherweise. Aber dadurch verhindern wir zugleich, dass sich das AIDS-Virus an den Menschen anpasst. Und für das SARS-CoV-2 gilt: Das Anpassen an den Wirt – und damit Herdenimmunität – ist zumindest in Deutschland ethisch gar nicht vertretbar.
Entwicklung eines Impfstoffs oder Entwicklung von Therapien – worauf sollte der Fokus liegen?
Man muss das eine tun und das andere nicht lassen. Therapie ist absolut notwendig für schwerstkranke Menschen. Dafür muss man aber die Krankheit gut verstanden haben und da sind wir noch nicht am Ende der Fahnenstange, einiges verstehen wir einfach noch nicht. Doch nur aus Erkenntnissen leiten sich bestimmte Therapien ab. Und auch was den möglichen Impfstoff angeht, müssen wir wohl vielseitig weiterforschen. Neben den bisher bekannten Kandidatenimpfstoffen, die sich bereits in verschiedenen Phasen der Prüfung (zur Zulassung) befinden, sind meiner Erfahrung nach weitere innovative Ansätze erforderlich. Letztendlich wäre es gut und notwendig, mehrere Impfstoffe zur Verfügung zu haben. Daran wird weltweit in einer Vielzahl von Laboren geforscht.
Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff?
Einen gibt es bereits, den russischen Impfstoff. Er hat den Vorteil, dass er aus einer staatlichen Institution heraus kommt, damit ist theoretisch alles nachvollziehbar, es gibt weder Patente noch Firmengeheimnisse, die zwischen Anwendung und Herstellung stehen. Ich sage aber ausdrücklich nicht, dass dieser Impfstoff wirkt und keine Nebenwirkungen hat, und ich sage auch nicht, dass es eine tolle Idee war, den Impfstoff so frühzeitig zu vermarkten. Es ist unheimlich wichtig, dass die Nebenwirkungen bis ins Letzte untersucht werden. Und mögliche Impfstoffe müssen vor der Zulassung in Deutschland, in Europa, in Nordamerika, in mehreren Ländern der Welt getestet werden. Denn je nachdem, wo die Menschen leben, ob in Europa oder Australien oder Afrika, reagieren sie unter Umständen unterschiedlich auf den Impfstoff.
In welcher Rolle sehen Sie die Virologen, wenn es um Aufklärung geht, mit Blick auf Politik und Bevölkerung?
Wenn es um Politik geht, glaube ich, haben wir Virologen eine Bringschuld. Ein großer Teil von uns wird durch Steuergelder bezahlt und da müssen wir was zurückgeben, was jedem Einzelnen nutzen kann. Dass nicht alle Politiker auf uns hören, kann man im Einzelfall beklagen, aber gehört auch zur Demokratie dazu. Auch nicht alle Virologen sprechen mit einer Stimme, da gilt es, in einen Diskurs zu kommen. Insgesamt bin ich beeindruckt, dass die Politik an sich hinhört, losgelöst von der Parteienzugehörigkeit. Das gilt für alle Funktionsträger in den Bundesländern. Was die Bevölkerung betrifft, da liegen die Fakten eigentlich auf dem Tisch, die AHA-Regeln erweitert um L beherzigen. Vielleicht brauchen wir auch noch mehr Antworten in Detailfragen. Aber letztlich geht es darum, wie man sich schützen und die Weiterverbreitung verhindern kann. Und das sollte inzwischen hinreichend bekannt sein.
Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was werden die Menschen aus der Pandemie gelernt haben?
Ich habe die große Hoffnung, dass das Vertrauen in die Demokratie und Politik grundsätzlich steigt. Dass das Bewusstsein dafür gestiegen ist, dass Solidarität notwendig ist in der Gesellschaft. Und dass ein Anreiz für jüngere Leute geschaffen wurde, die sagen, dass ein naturwissenschaftliches Studium etwas Interessantes und Gutes für die Zukunft ist.