Rekordschnell und erfolgreich sein, ohne einen Kontrollschritt auszulassen – das war die Herausforderung für die Impfstoffentwickler in Unternehmen und Forschungsinstituten, die es mit SARS-CoV-2 aufnahmen. Kein Impfstoff der letzten 60 Jahre war in weniger als vier Jahren entwickelt worden.
Am 10. Januar 2020 lieferten chinesische Wissenschaftler der Welt die vielleicht wichtigste Information dieses Jahres: die Gensequenz des neuen Coronavirus SARS-CoV-2, Erreger der Krankheit Covid-19. Dies war so entscheidend, weil Diagnostika wie Impfstoffentwickler darin fast alles fanden, was sie für ihre Arbeit benötigten. Sie brauchten dann den echten Erreger gar nicht mehr, um loszulegen. So wurde dann auch schon am 16. Januar von der Berliner Charité ein erster Test vorgestellt; und kurz darauf meldeten Unternehmen und Institute, dass sie mit der Entwicklung von Impfstoffen begonnen hatten. Eine Firma gab sogar an, dass sie ihren ersten Impfstoffprototyp nach einem Labormarathon schon am späten Abend des 12. Januars fertig hatte. Andere arbeiteten etwas länger, doch auch hier dauerte die (teilweise Nacht-)Arbeit in den Labors nur wenige Wochen. Und die Zahl der Impfstoffprojekte stieg und stieg – auf mittlerweile über 220, darunter zwölf aus Deutschland.
Das ist nicht die Art, wie Pharma-Unternehmen normalerweise vorgehen. Auf neue Ideen für Produkte folgt sonst erst eine Zeit der Finanzplanung, Marktevaluation und Prüfung der Patentsituation. Und einen Impfstoff gegen eine Krankheit zu planen, die schon mehr als 20 andere Firmen im Visier haben – unplausibel! Aber dieses Mal war nichts normal, und so legte eine wachsende Zahl von Unternehmen und Forschungseinrichtungen einfach los.
Alarm: „Das ist keine Übung!“
Mehrere Entwicklungsteams waren deshalb so schnell, weil sie sich schon seit Jahren auf so eine Situation vorbereitet hatten. Sie hatten zum Teil die ersten Arbeitsschritte hin zu einem Notfallimpfstoff schon praktisch trainiert – wobei ein bekannter Keim ersatzweise den „unbekannten Erreger X“ mimen musste. Know-how und technische Geräte für diese Aufgabe standen bereit; von der Forschungsleiterin bis zum technischen Assistenten waren alle geschult. Nun kam es zum Ernstfall.
Den Teams kam aber auch zu Hilfe, was man schon über die nahe verwandten SARS- und MERS-Coronaviren wusste, besonders über ihre äußerlichen Zacken, genannt Spikes: Sie sind entscheidend für das Virus, weil es sich damit Zugang zu einer Zelle verschafft, in der es sich vermehrt. Und sie sind wesentlich für die Impfstoffentwickler, weil der Körper auf die Spikes mit einer starken Immunantwort reagiert. Das Gen für die Spikes von SARS-CoV-2 war in der übermittelten Sequenz schnell gefunden; und für die meisten Impfstoffe wurde es dann auf die eine oder andere Weise benutzt.
Beim Impfstofftyp gingen die Entwickler unterschiedliche Wege. Einige konzipierten Impfstoffe, die vor allem diese Spikes enthalten, hergestellt in gentechnisch veränderten Zellkulturen. Andere planten, die Produktion von Spikes in Zellen der Geimpften zu verlegen. Dafür mussten die Forscher das Gen mit der Anleitung entweder einem anderen, harmlosen Virus mitgeben (einem sogenannten Vektorvirus) und damit impfen; oder sie konnten das Gen direkt zum Impfen verwenden, als sogenannte Messenger-RNA (kurz mRNA). Jede Zelle weiß, was sie mit mRNA machen muss, weil sie es ständig tut: durchlesen, nach dieser Bauanleitung ein Protein herstellen, und die mRNA anschließend schreddern. Vom eingeschleusten Gen bleibt dann nichts zurück.
Impfstoffe mit gentechnisch produziertem Virusmaterial gibt es schon viele; und Vektorvirenimpfstoffe seit Kurzem gegen Ebola. Doch Impfstoffe mit mRNA sind so neu, dass bisher noch keiner den Markt erreicht hatte. Doch die theoretischen Vorzüge dieser Impfstoffe – besonders kurze Entwicklungszeit und vergleichsweise einfache Großproduktion – machten es wert, es zu versuchen.
Erprobung mit Tieren und mit Freiwilligen
Sobald Impfstoffe im Labor fertig designt waren, war ihr weiterer Weg vorgezeichnet: Zunächst mussten sie sich bei Tieren bewähren, dann bei freiwilligen Teilnehmern von Impfstudien. Um ein schnelleres Vorankommen zu ermöglichen, boten die Arzneimittelbehörden und Ethik-Kommissionen an, Teile von Studienanträgen schon vorab zu bearbeiten. Trafen dann die letzten benötigten Daten ein, brauchten sie nur noch wenige Tage für eine Genehmigung. So ließ sich viel Zeit sparen und eine Erprobung ohne Verzug erreichen.
In den ersten Studien ging es darum, mit wenigen Hundert Teilnehmern die Verträglichkeit zu bestätigen, die Immunreaktionen zu vermessen und das beste Impfschema zu finden („Welche Dosis? Einmal oder zweimal?“). Das ließ sich im Frühsommer gut in Europa durchführen; denn da ist es noch unerheblich, ob die Teilnehmer mit SARS-CoV-2 in Berührung kommen oder nicht.
Anders bei den abschließenden Studien: Hier muss der Impfstoff zeigen, ob er wirklich vor einer Erkrankung mit Covid-19 schützt. Und das ließ sich zügig nur da herausfinden, wo die 25.000 bis 60.000 Teilnehmenden trotz Vorsichtsmaßnahmen ein substanzielles Ansteckungsrisiko haben. So kam es, dass Brasilien, Argentinien und die USA zu Top-Studienländern wurden. Genügend Teilnehmer zu finden, war kein Problem, obwohl sie alle von vornherein wussten, dass sie nur eine Fifty-Fifty-Chance hatten, tatsächlich eine echte und keine Scheinimpfung zu bekommen. Das hielt sie nicht ab und sorgte dafür, dass bei drei Impfstoffen tatsächlich schon nach wenigen Monaten erkennbar wurde, dass sie bis zu 95 von 100 Geimpften vor einer Covid-19-Erkrankung schützen können.
Nun entscheiden die Zulassungsbehörden weltweit darüber, ob die Impfstoffe alle Anforderungen erfüllen. Währenddessen werden weitere Ergebnisse aus den weiterlaufenden Studien gesammelt. Noch weiß man ja zum Beispiel nicht, wie lange der Impfschutz hält.
Es zeichnet sich ab, dass es Unternehmen wirklich gelungen ist, Impfstoffe in Rekordzeit zu entwickeln, ohne Abstriche an der Sicherheit zu machen. Lassen die Behörden erste Impfstoffe zu, kann ab Ende 2020/Anfang 2021 geimpft werden, auf freiwilliger Basis. Weitere könnten folgen. Mit vielen Anbietern einschließlich Lizenz-Produzenten bestehen gute Aussichten, im Laufe von 2021 diese Pandemie zurückzudrängen.
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