Die ersten Impfstoffe gegen Corona stehen kurz vor der Zulassung. Bund und Länder haben sich bereits auf ein einheitliches und abgestimmtes Vorgehen zur Versorgung mit Impfstoffen geeinigt. Unterdessen entwickelt die Ständige Impfkommission (STIKO) Impfempfehlungen. Prof. Dr. Thomas Mertens, Vorsitzender der STIKO, erläutert im Interview, wie die Entwicklung von Impfempfehlungen vonstattengeht, welche Besonderheiten bei Corona-Impfstoffen auftreten und wie sich die Impfakzeptanz in Deutschland darstellt.
Die Corona-Pandemie hat die Arbeit der STIKO stärker in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Was sind ihre Aufgaben?
Thomas Mertens: Die STIKO ist im Infektionsschutzgesetz verankert mit der Aufgabe, Impfempfehlungen auszusprechen. Ihre Mitglieder werden vom Bundesgesundheitsministerium berufen. Die STIKO setzt sich aus ganz verschiedenen Fachrichtungen zusammen, sodass alle Kompetenzen vorhanden sind, die für die Entwicklung von Impfempfehlungen relevant sind. Es ist ein unabhängiges, nicht weisungsgebundenes Expertengremium, was ein ganz wichtiger Punkt ist. Denn diese Unabhängigkeit unterscheidet uns von ähnlichen Institutionen in anderen europäischen Ländern, die häufig an ein Ministerium angegliedert sind. Ein Missverständnis ist oft, dass die STIKO Teil des Robert Koch-Instituts (RKI) sei, das ist aber nicht so. Wir haben dort nur unsere Geschäftsstelle und erhalten administrative sowie wissenschaftliche inhaltliche Unterstützung.
Wie läuft der Prozess der Impfempfehlungen ab?
Wir haben uns in den letzten 15 Jahren sehr stark damit beschäftigt, unsere Vorgehensweise zu definieren und in einer schriftlichen Standardarbeitsanweisung niederzulegen, die auch im Internet abrufbar ist. Diese beinhaltet zum Beispiel, welche Fragen vor der Formulierung einer Impfempfehlung beantwortet werden müssen oder sollten. Wenn wir jetzt vor der Frage stehen, ob man eine Impfung oder seltener einen Impfstoff empfehlen soll, erfolgt unsere Arbeit immer auf der Basis von Evidenz, mit Blick auf in der Weltliteratur veröffentlichte Daten zu einzelnen Fragestellungen, die systematisch aufgearbeitet werden. Die Fragen können sich beispielsweise beziehen auf den Erreger, die Bedeutung und Rezeption der Krankheit bis hin zu der Frage, ob man eine neue Impfung in den bestehenden Impfplan vernünftig eingliedern kann. Es sind auch ganz praktische Fragestellungen. Am Ende kommen wir dann zu einer Empfehlung oder eben auch nicht. Primäres Ziel der STIKO ist es nicht, eine Kosten-Nutzen-Analyse zu machen, also zu schauen, ob sich eine Impfung lohnt, was auch immer man in der Politik darunter versteht.
Wie lange dauert so ein Verfahren?
Das ist auf jeden Fall ein aufwändiger Prozess. Nur die Evidenzschaffung zu einer einzelnen Fragestellung alleine kann schon mal ein halbes Jahr dauern. Unsere Methodik gehört aber auch weltweit zu den anspruchsvollsten, was dazu geführt hat, dass die Reputation der STIKO international sehr hoch geworden ist. Unsere Nachbarländer sind jetzt mit Blick auf Corona auch sehr interessiert an unseren systematischen Vorarbeiten.
Was den Corona-Impfstoff angeht, drücken jetzt alle auf die Tube. Die ersten Impfstoffe stehen bereits kurz vor der Zulassung, also innerhalb eines Jahres.
Normalerweise dauert das alles länger. Aber die mRNA-Technologie, auf der die Corona-Impfstoffe basieren, ist nicht neu als Technologie und bot sich an. Biontech, also eines der Unternehmen, das einen Corona-Impfstoff entwickelt hat, war auch deshalb so flott, weil es schon lange mit der mRNA-Technologie arbeitet und die Erfahrungen genutzt hat. Darüber hinaus übt der weltweite Bedarf nach einem guten und sicheren Impfstoff einen gewissen zeitlichen Druck aus.
Befürchten Sie, dass aufgrund des dringenden Bedarfs die Maßstäbe an einen Corona-Impfstoff herunter geschraubt werden?
Ich habe das Gefühl, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), die ja auf europäischer Ebene für die Zulassung von Impfstoffen zuständig ist – und die Corona-Impfstoffe werden europaweit zugelassen, es wird also keine nationale Zulassung über das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) geben –, ganz normal prüft wie gehabt. Es gab auch Publikationen in bedeutenden amerikanischen Journalen, in denen Wissenschaftler darauf hingewiesen haben, dass die U. S. Food and Drug Administration (FDA), die amerikanische Zulassungsbehörde, keinesfalls von ihren üblichen Zulassungsvorgehensweisen und –regeln abweichen darf.
Was bedeutet das für die STIKO mit Blick auf den zeitlichen Druck?
Die STIKO arbeitet ja nicht erst seit zwei Wochen an den Empfehlungen für einen Corona-Impfstoff. Im Grunde erfassen wir seit Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa, was an neuen Daten bekannt wird; sei es zum Erreger, zur Immunität gegen den Erreger oder wie nun zu den Impfstoffen. Wir hoffen, dass die Politik jetzt nicht anfängt, unabhängig von der Evidenz Dinge zu entscheiden, was sie natürlich durchaus könnte. Deswegen stehen auch wir ein wenig unter Druck, möglichst zeitnah abzuliefern. Aber wir wollen keinesfalls von den Forderungen unserer Standardvorgehensweise (SOP) abweichen. Man muss aber auch sehen, dass eine Empfehlung immer praktikabel sein muss. Das spielt bei Corona eine große Rolle, weil wir natürlich eine Empfehlung nicht so kompliziert machen können, sodass die Befolgung in der Praxis gar nicht möglich ist.
Eine große Rolle spielt auch die Priorisierung, also wer zuerst geimpft werden soll.
Zunächst einmal: Wir als STIKO machen immer Empfehlungen. Das heißt wir machen auch nur eine Empfehlung zu einer Priorisierung, die Priorisierung selbst machen wir nicht. Die Umsetzung der Empfehlung ist Sache der Länder, also der Politik. An der Empfehlung zur Priorisierung arbeiten wir derzeit und wollen den Entwurf der Empfehlung in Kürze in das vorgeschriebene Stellungnahmeverfahren geben. Danach werden die eingehenden Stellungnahmen noch geprüft und diskutiert. Die Empfehlung wird sicher bald in 2021 überarbeitet werden müssen, da neue Erkenntnisse und Impfstoffe erwartet werden. Veröffentlicht wird die Empfehlung mit Zulassung des Impfstoffs beziehungsweise der Impfstoffe.
Hatte die Priorisierung in der Vergangenheit schon mal eine ähnliche Bedeutung?
Nehmen wir die Grippeimpfung: Wenn Sie sich da die differenzierten Empfehlungen nach Indikationsgruppen angucken, ist das natürlich im gewissen Maße auch eine Priorisierung beziehungsweise Priorisierungsempfehlung. Also wenn man zum Beispiel sagt, es sollten vor allem ältere Leute geimpft werden. Aber bei Corona erfährt sie ein viel größeres Gewicht, alleine schon durch die mediale Aufmerksamkeit. Insofern ist es eigentlich nichts Besonderes vom Abstrakten her, aber vom Konkreten durchaus. Allerdings: Was für uns als STIKO besonders war, ist dass wir zu einem Impfstoff arbeiten mussten, der noch gar nicht zugelassen ist. Das ist erstmalig. Wenn Sie bei Corona nach etwas Einmaligem fragen, ist es weniger die Tatsache, dass wir eine Empfehlung zur einer Priorisierung erarbeiten müssen, sondern dass es geschieht für einen Impfstoff, den es noch gar nicht gibt.
Kann es passieren, dass Sie am Ende keine Impfempfehlung aussprechen?
Theoretisch könnte das sein. Das ist jetzt aber nicht sehr wahrscheinlich nach dem, was wir bislang wissen. Wenn wir keine Empfehlung aussprechen würden, wäre das politisch natürlich heikel. Wobei die Politik selbstverständlich trotzdem impfen lassen könnte. Im Übrigen haben wir ja schon häufig keine allgemeine Impfempfehlung ausgesprochen. Die Menschen rennen einem zum Beispiel immer noch die Bude ein zu den Impfempfehlungen zu den B-Meningokokken, wo wir uns noch für keine standardmäßige Impfung aussprechen. Seit heute, 3. Dezember 2020, liegen uns die Daten aus der Zulassungsstudie vor, die derzeit intensiv geprüft werden – aber es sieht zunächst nicht schlecht aus.
Wenn der Impfstoff erhältlich ist, wie schnell kann eine Durchimpfung erfolgen?
Es wird schon eine gewisse Zeit dauern. Da gibt es viele Variablen zu beachten, etwa die Anzahl der Impfzentren, die Dauer pro Impfung, die Voraussetzungen, dass genug Impfstoff vorhanden ist, dass die Logistik klappt und dass die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt zum Impfen erscheinen. Wir wissen auch nicht genau, wie die Akzeptanz in der Bevölkerung letztlich sein wird. Um es klar zu sagen: Individualschutz könnte man leicht erreichen. Wenn Sie zehn Leute impfen mit einem Impfstoff, der was taugt, dann sind zehn Leute geschützt. Aber bevor Sie eine epidemiologische Auswirkung sehen und wieder eine große Party feiern können, dauert das. Und das öffentliche Interesse ist eigentlich mehr an den epidemiologischen Auswirkungen interessiert. Wenn nur 50 Prozent Impfbeteiligung vorliegen, dann werden die epidemiologischen Effekte nicht wie gewünscht eintreten. Dann kommen wir nie zu einer Herdenimmunität, die ja letztlich ein Ziel ist.
Wie sieht es mit der Impfakzeptanz in Deutschland aus?
Sie ist nicht besonders hoch, aber die Bereitschaft der Bevölkerung hat im Großen und Ganzen in den letzten Jahren eher zugenommen. Blicken wir konkret auf Corona, so glaube ich, dass je drängender das Problem wird und je schlechter es uns als Gemeinschaft geht, wenn die Krankenhäuser überfüllt sind und Menschen sterben, dann wird die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, weiter zunehmen. Ich habe mich in der Vergangenheit schon sehr intensiv mit den sogenannten Impfgegnern beschäftigt. Es ist ein sehr heterogenes Kollektiv.
Wie sieht dieses aus?
Da gibt es eine kleine Gruppe, in etwa ein bis zwei Prozent, die sind überhaupt nicht in der Lage zu argumentieren, somit fragt man sich auch, wie man mit den Leuten umgehen soll. Die ehrlich Besorgten sind Leute, die mehr oder weniger berechtigte Fragen haben, was eine Impfung betrifft. Die meistens von ihnen sind auch gar nicht gegen alle Impfungen, sondern nur gegen bestimmte. Und da muss man fairerweise sagen, dass die Verantwortung bei uns Fachleuten und Ärzten liegt im Sinne von Aufklärung.
Was müssen wir tun, um gut aufzuklären?
Erstens müssten die Ärzte eine gute Ausbildung und Kompetenz in Sachen Impfung mitbringen, um informieren und diskutieren zu können. Ich bin lange Zeit Studiendekan an einer Medizinischen Fakultät gewesen und ich weiß, dass Impfung keine Pflichtveranstaltung darstellt. Die Studierenden lernen ja zum Teil viel abgefahrenes Zeug, aber Impfen als Thema ist mancherorts eine Freiwilligkeit und überall anders geregelt. Zweitens, Beratung und Aufklärung kosten viel Zeit und die wird nicht bezahlt. Neben der Aufklärung durch die Ärzte müssen wir aber auch alle möglichen Kommunikationskanäle und Kommunikationsformen nutzen, sprich letztlich die ganze Bandbreite des Internets. Da sind alle Akteure gefragt, die Ärzte, Krankenkassen, Politik, Medien und letztlich jeder Einzelne.
Die Impfung soll freiwillig sein. Können Sie sich unter Umständen eine Pflicht zur Corona-Impfung vorstellen?
Nein. Ich meine, natürlich ist es nicht letztlich auszuschließen, dass man in eine Situation käme, in der man eine sehr genau definierte Impfpflicht für eine bestimmte Gruppe machen könnte. Wenn man zum Beispiel feststellt, dass die vulnerablen Gruppen nicht ausreichend geschützt werden, weil man keine entsprechend hohe Durchimpfungsrate bei den Pflegenden erreicht, dann wäre so etwas vielleicht später überlegbar. Aber derzeit steht das überhaupt nicht auf der Agenda. Ich persönlich bin auch niemals ein Befürworter einer Impfpflicht gewesen.
Einige Menschen sagen, sie würden sich gerade am Anfang nicht impfen lassen und erstmal abwarten. Was würden Sie ihnen entgegnen?
Grundsätzlich ist es ja immer so: Wenn es etwas Neues gibt, haben die Menschen erstmal Angst. Und die Risikowahrnehmung ist bei Menschen schon immer ein Problem gewesen, die Gewichtung von Risiken fällt uns extrem schwer. Das sehen Sie beim Impfen auch. Und wenn Sie mich jetzt als Theoretiker fragen, ist es natürlich so, dass in dieser Phase die Sicherheit gut ist, aber nie vollständig sein kann. Doch das gilt für jedes neue Medikament und jede neue Impfung. Die Konsequenz ist, dass wir unbedingt für ausgezeichnete Pharmakovigilanz sorgen müssen. Deswegen ist eine flächendeckende und absolut zuverlässige Dokumentation der Impfung extrem wichtig, denn nur so kann man letztendlich sogenannte seltene Signale, die auftreten könnten, frühzeitig erkennen.
Sie sprechen sich für ein Impfregister aus.
Das habe ich immer getan und lag damit schon im Clinch mit allen möglichen Leuten, von Datenschützern bis hin zu denjenigen, die sagen, es koste zu viel Geld. Diese Diskussion ist alt. Und trotzdem, wir brauchen ganz klar ein Impfregister, gerade auch jetzt zu Corona. Natürlich muss das datenschutzrechtlich gesichert sein. Aber wenn man auf der einen Seite eine wirklich verantwortungsvolle Pharmakovigilanz erreichen will, was wir müssen, dann braucht es einen gangbaren Kompromiss, was den Datenschutz betrifft. Ich bin und bleibe Verfechter eines Impfregisters, so ähnlich wie es das in Finnland gibt zum Beispiel, die machen damit sehr gute Erfahrungen.
Ihr Schlussplädoyer in Bezug auf Impfungen generell und bezogen auf Corona?
Impfungen sind die beste prophylaktische Maßnahme, die die Medizin bislang entwickelt hat, wenn Sie auf allgemeine Empfehlungen schauen. Dafür gibt es historisch viele unwiderlegbare Beweise, nehmen Sie Diphtherie, Tetanus, Hepatitis B, Polio, Kinderlähmung, Pocken. Bezüglich Infektionskrankheiten ist Impfung das Einzige, was uns hilft, ein Problem, das wir mit einer Infektionskrankheit haben, wirklich definitiv zu lösen. Bei Corona als Virusinfektion ist das auch so – und ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, durch Impfung die Pandemie möglichst bald „in den Griff zu bekommen“.