Patientensicherheit

Immer wieder die gleichen Fehler

In der Jahresstatistik zur Behandlungsfehlerbegutachtung des Medizinischen Dienstes tauchen immer wieder sogenannte Never Events auf. Das sind schwerwiegende, gleichzeitig aber gut vermeidbare Ereignisse wie Patienten- und Seitenverwechslungen oder unbeabsichtigt im Körper verbliebenes OP-Material. Um die Patientensicherheit in Deutschland voranzubringen, ist eine Meldepflicht für Never Events unverzichtbar.

Illustration: OP-Besteck

Im Jahr 2022 hat der Medizinische Dienst 13.059 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. In jedem vierten Fall wurden ein Fehler und ein Schaden festgestellt; in jedem fünften Fall war der Fehler Ursache für den erlittenen Schaden (siehe Abbildung 1). Die Gesamtzahl der Gutachten bewegt sich auf dem Niveau der Vorjahre. Allerdings zeigen die Zahlen nur einen sehr kleinen Ausschnitt des tatsächlichen Geschehens. In wissenschaftlichen Untersuchungen ist vielfach belegt worden, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt: Man geht davon aus, dass etwa ein Prozent der Krankenhausfälle von Behandlungsfehlern betroffen sein könnte. Nur etwa drei Prozent aller unerwünschten Ereignisse werden nachverfolgt.

Infografik: Gutachterliche Ergebnisse zu Behandlungsfehlern

In der aktuellen Statistik bezogen sich zwei Drittel der Behandlungsfehlervorwürfe auf Leistungen in der stationären Versorgung, zumeist in Krankenhäusern (8.827 Fälle). Ein Drittel bezog sich auf Arztpraxen (4.208 Fälle). Die meisten Vorwürfe beziehen sich auf operative Eingriffe.

30,3 Prozent aller Vorwürfe (3.960 Fälle) betrafen Orthopädie und Unfallchirurgie, 12,2 Prozent Innere Medizin und Allgemeinmedizin (1.599 Fälle), jeweils knapp neun Prozent Frauenheilkunde und Geburtshilfe (1.143 Fälle) sowie Allgemein- und Viszeralchirurgie (1.133 Fälle). Ebenfalls knapp acht Prozent entfielen auf Zahnmedizin (1.006 Fälle) und über sechs Prozent auf Pflege (834 Fälle) (siehe Abbildung 2). Eine Häufung in einem Fachgebiet sagt jedoch nichts über die Fehlerquote oder die Sicherheit in dem jeweiligen Gebiet aus. Sie zeigt nur, dass Patientinnen und Patienten reagieren, wenn eine Behandlung nicht ihren Erwartungen entspricht. Die Vorwürfe betreffen fehlerhafte Behandlungen bei Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Knochenbrüchen, Durchblutungsstörungen am Herzen, Gallensteinen oder Zahnerkrankungen und vieles andere mehr − über 1.000 Diagnosen wurden erfasst.

Infografik: Verteilung der Vorwürfe zu Behandlungsfehlern nach Fachgebiet

Bei knapp zwei Dritteln (60,5 Prozent) der begutachteten Fälle waren die Gesundheitsschäden der Patientinnen und Patienten vorübergehend − eine Intervention oder ein Krankenhausaufenthalt waren erforderlich. Die Patientinnen und Patienten sind jedoch vollständig genesen. Bei über einem Drittel der Betroffenen (35 Prozent) wurde ein Dauerschaden verursacht. In drei Prozent der Fälle (84) hat ein Fehler zum Versterben geführt oder wesentlich dazu beigetragen.

Für die Etablierung und die Überprüfung der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen sind Never Events von großer Bedeutung. Dabei handelt es sich um gut vermeidbare unerwünschte Ereignisse, die zu schwerwiegenden Schäden bei Patientinnen und Patienten führen können: Dazu gehören Patienten- und Seitenverwechslungen, schwerwiegende Medikationsfehler oder unbeabsichtigt zurückgebliebene Fremdkörper nach Operationen. Diese Schadensereignisse tauchen jedes Jahr in der Begutachtungsstatistik der Medizinischen Dienste auf (2022: 165 Fälle) − obwohl die Risiken längst bekannt und geeignete Präventionsmaßnahmen vielfach verfügbar wären. Solche Ereignisse zeigen: Es bestehen Risiken im Versorgungsprozess; die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort sind unzureichend.

In vielen Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden, Großbritannien, Kanada, Schweiz und einigen US-amerikanischen Bundesstaaten werden bereits verpflichtende Meldesysteme für Never Events erfolgreich genutzt. Sie tragen dazu bei, Fehlerquellen systematisch aufzuspüren, Präventionsmaßnahmen zu ergreifen und deren Wirksamkeit zu überprüfen. Die Einführung eines Meldesystems für Never Events ist auch im Globalen Aktionsplan der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Ziel verankert. Demnach sollen 90 Prozent der Länder bis spätestens 2030 ein Meldesystem für Never Events einführen.

Aus Patientensicht ist nicht hinnehmbar, dass es in Deutschland nicht längst solch ein Meldesystem gibt. Die Patientinnen und Patienten müssen auf eine qualitativ hochwertige Versorgung vertrauen können, in der die Sicherheit an erster Stelle steht.

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