Daten der hkk Krankenkasse

Autismusfälle bei Kindern und Jugendlichen gestiegen

Daten der hkk Krankenkasse zeigen, dass sich die Anzahl gemeldeter Autismusfälle pro Jahr verdoppelt hat. Auch international werden deutliche Anstiege verzeichnet.

Illustration: Therapie bei Autismus

Weltweit werden immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet. Nicht zuletzt hat eine Studie im „The Journal of Pediatrics“ mit einem deutlichen Anstieg von Autismus-Spektrum-Störungen in New Jersey für Aufmerksamkeit gesorgt. Als mögliche Gründe werden bessere Tests und schnellere Diagnosen genannt.

Zur Entwicklung hierzulande wurde auf Basis von ambulanten Abrechnungsdaten der hkk Krankenkasse die Verbreitung von Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und deren Behandlung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (0–24 Jahre) untersucht. Zwischen den Jahren 2013 und 2019 stieg die Betroffenenquote von 0,4 auf 0,8 Prozent kontinuierlich an. Bis ins Jahr 2022 blieb die Quote (0,8 Prozent) nahezu unverändert. In der geschlechtsspezifischen Betrachtung zeigt sich, dass Jungen und junge Männer mehr als doppelt so häufig betroffen waren wie weibliche Versicherte in dieser Altersgruppe (2022: 1,1 Prozent vs. 0,5 Prozent).

Autismus wird laut dem Klassifikationssystem ICD-10 als Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems angesehen und diagnostisch in fünf Subgruppen unterteilt. Laut hkk-Datenanalyse wurden am häufigsten Frühkindlicher Autismus (36,8 Prozent) und Asperger-Syndrom (31,9 Prozent) festgestellt. Mehr als die Hälfte aller ASS-Betroffenen (53,6 Prozent) wies mindestens eine weitere kinder- und jugendpsychiatrische Begleiterkrankung, beispielsweise Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung ADHS (33,1 Prozent) oder Angststörung (24,6 Prozent), auf. Zur Behandlung wurde am häufigsten eine Psychotherapie verordnet (30 Prozent), gefolgt von medikamentösen Behandlungen mit Psychopharmaka (27,3 Prozent), Ergotherapie (21,9 Prozent) und Logopädie (18,3 Prozent).

Relativ „junges“ Krankheitsbild

Der Kinder- und Jugendarzt sowie Landesvorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt* innen in Bremen, Dr. Stefan Trapp, hat die Ergebnisse der hkk-Datenanalyse kommentiert.

Die Gründe für die Zunahme der Diagnosen aus dem Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen sind demnach vielfältig. Zum einen handele es sich um ein relativ „junges“ Krankheitsbild: Auch wenn grundlegende Arbeiten bereits Anfang und Mitte des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht wurden (zum Beispiel Kanner, Asperger), so fanden sie erst mit der Übersetzung ins Englische Mitte der 1980er und 1990er Jahre zunehmende Resonanz in breiten ärztlichen und psychotherapeutischen Kreisen. „Die starke Zunahme am Beginn der 2000er Jahre in den USA ist wohl vor diesem Hintergrund zu sehen“, vermutet Trapp.

Auch in Deutschland sei das Wissen über ASS in Fachkreisen in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen und damit die Voraussetzung und Bereitschaft, entsprechende Diagnosen zu stellen. Auch medizinische Laien hätten heute Vorstellungen von „Autisten“, teilweise geprägt von klischeehaften medialen Darstellungen wie im Kinofilm „Rain Man“ oder in der TV-Serie „Big Bang Theory“. Die Darstellung von „Autisten“ als verschrobene, aber letztlich sympathische Nerds könne laut Trapp helfen, die Stigmatisierung der Betroffenen zu reduzieren.

Infografik: Betroffenenquote Autismus

Jungen häufiger als Mädchen betroffen

„Praktisch alle Studien zur Prävalenz von ASS zeigen eine deutlich höhere Rate an Betroffenen männlichen Geschlechts (ca. drei- bis viermal häufiger)“, fasst Trapp zusammen. Diskutiert würden vor allem genetische, aber auch hormonelle und soziale Ursachen. So gehen viele Expert*innen davon aus, dass betroffene Mädchen stärkere psychiatrische Komorbiditäten aufweisen müssen, um eine ASS-Diagnose zu erhalten. Vermutet wird auch, dass betroffene Mädchen und Frauen wegen der den Geschlechtern sozial zugewiesenen unterschiedlichen „typischen“ Verhaltensweisen soziale Beeinträchtigungen teilweise besser kompensieren können als ihre gleich stark betroffenen männlichen Altersgenossen. „In diesem Zusammenhang könnte ich mir vorstellen“, so Trapp, „dass auch fachlich nicht korrekte Diagnosestellungen bei sozial unangepassten Kindern wegen ihrer zugeschriebenen Geschlechterrolle eher Jungen treffen.

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