Am Ende des Ersten Weltkriegs wütete in allen Teilen der Erde die Spanische Grippe. Das Rad der Zeit hat sich inzwischen mehr als 100 Jahre weitergedreht und eine neue, durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelöste Lungenkrankheit über die Menschheit gebracht. Beide Virusinfektionen sind Pandemien, also Seuchen, die über Ländergrenzen und Kontinente hinweg viele Menschen heimsuchen. Auch wenn die Lungenkrankheit Covid-19 bislang nicht an die verheerenden Ausmaße von geschätzten 25 bis 50 Millionen Toten der Spanischen Grippe heranreicht, hallt diese als eindringliche Warnung nach.
Die Spanische Grippe brach im Frühjahr 1918 aus – allerdings nicht auf der iberischen Halbinsel, sondern im mittleren Westen der USA. Ihren Namenszusatz erhielt sie, weil die ersten Nachrichten über die rätselhafte Krankheit aus dem neutralen Spanien kamen, das nicht der Kriegszensur unterlag. Der für die Influenza-Pandemie verantwortliche Grippevirus H1N1 ging vermutlich von Geflügel oder Schweinen auf den Menschen über. Als erster Patient wird häufig der Koch Albert Gitchell genannt, der sich im Armee-Stützpunkt Fort Riley in Kansas aufhielt und im März mit Fieber krankmeldete. Bald darauf erkrankten in der Militärbasis Hunderte von Männern.
Truppenbewegungen begünstigten Pandemie
Im Zuge von US-Truppentransporten über den Atlantik an die Westfront in Frankreich erreichte die Seuche Europa. Von hier aus verbreitete sie sich bis zum Jahresanfang 1919 in drei Wellen um den Erdball. Die erste Welle, im Frühjahr 1918, verlief vergleichsweise harmlos. Viele der Betroffenen litten unter Schüttelfrost und Fieber, aber nur wenige starben.
Das änderte sich mit der zweiten Welle, die sich durch eine Genmutation des Grippevirus zu einer verheerenden Pandemie ausweitete, die mit großer Wucht und nahezu zeitgleich in Frankreich, Spanien, Afrika, Indien und den USA grassierte. Im Deutschen Reich trat die höchste Zahl an Neuerkrankungen zwischen Oktober und November 1918 auf. Im Vergleich zur zweiten verlief die dritte Pandemie- Welle um den Jahreswechsel 1918/19 etwas abgeschwächter. Grippeforscher führten dies auf die erworbene Immunität von Überlebenden der vorangegangenen Wellen und eine abnehmende Ansteckungsfähigkeit des Virus zurück.
Häufige Todesursache: Begleitende bakterielle Lungenentzündung
Bei den schweren Verlaufsformen der Spanischen Grippe lagen nur wenige Tage zwischen der Erkrankung und dem Eintritt des Todes. Symptome wie Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen schwächten den Körper. Die meisten Menschen starben aber nicht an der eigentlichen Grippe, sondern an einer begleitenden bakteriellen Lungenentzündung – auch weil es damals keine Antibiotika gab und dem Grippeausbruch andere Erkrankungen wie Tuberkulose vorausgingen. Die Haut und Schleimhäute der Verstorbenen waren charakteristischerweise tiefblau oder schwarz verfärbt.
Ungewöhnliche Grippetote: Jung, kräftig, gutes Immunsystem
Auffällig ist, dass die Spanische Grippe viele Todesopfer unter jüngeren Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren forderte. Dies unterscheidet sie fundamental von der saisonalen Grippe, die in erster Linie Säuglinge und alte Menschen gefährdet. Eine Erklärung für die hohe Todesrate unter jüngeren Menschen bei der Spanischen Grippe richtet sich auf das Immunsystem der Erkrankten, das zunächst unterdrückt wurde, dann überreagierte (Zytokinsturm) – und in der Folge eine Schädigung und Zerstörung des Lungengewebes bewirkte.
Gefahr unterschätzt?
Die Regierungen in Berlin, Paris oder Washington wurden zwar von der Wucht der zweiten Welle (Herbstwelle) überrascht, aber aus Sicht des Neuzeithistorikers Eckard Michels sahen sie die Pandemie nicht als das dringendste Problem an. Die Welt war 1918/1919 vom Ersten Weltkrieg gezeichnet, die Menschen vom Hunger ausgezehrt und erschöpft. Und auch die Kriegszensur wollte eine Berichterstattung über die totbringende Seuche möglichst unterbinden, um Soldaten und Zivilisten nicht weiter zu demoralisieren. Die Zuständigkeit für das Thema Spanische Grippe wurde in allen Ländern den lokalen Behörden überlassen.
Im Deutschen Kaiserreich spielte die Spanische Grippe in der öffentlichen Wahrnehmung eine viel geringere Rolle als beispielsweise in den USA, wo zahlreiche Gesundheits- und Quarantänemaßnahmen ergriffen wurden. Historiker Michels kommt zu dem Schluss, dass den deutschen Behörden der Wille fehlte, die Pandemie zu bekämpfen. Es mangelte außerdem an geeigneten Ressourcen wie Notlazaretten, Ambulanzwagen und zusätzlichem Pflegepersonal. Durch die unzureichende Vorbereitung auf die Grippekrise, gepaart mit einem militärischen und politischen Führungsverlust, nahm die Spanische Grippe im öffentlichen Bewusstsein keinen Platz ein. Sie stelle nur „einen Mosaikstein des Leidens im Weltkrieg dar“, so Michels. Etwa 350.000 Menschen starben in Deutschland an der Spanischen Grippe.
2005 gelang einem US-Forscherteam um Jeffery Taubenberger sogar, das tödliche H1N1-Grippevirus wiederzubeleben und Mäuse damit zu infizieren. Das Pandemievirus entstand aus einem Vogelgrippevirus, das sich durch Mutationen an den menschlichen Organismus anpasste. So wurde es hochgradig virulent und konnte sich in den Lungenzellen seines Wirts besonders schnell vermehren. Einige Virologen sind überzeugt, dass die derzeit grassierende Lungenkrankheit Covid-19 keine ähnlichen Ausmaße wie die Spanische Grippe erreichen könnte. Anders als 1918/1919 hat sich Deutschland gut auf die Pandemie vorbereitet. Dennoch sind Dauer und Ausgang der Corona- Pandemie ungewiss.