Arzneimittel

Lieferengpässe – ein (noch) ungelöstes Problem

Lieferengpässe sind ein globales Problem, das in den USA bereits vor 2010 aufgetreten ist und seit einigen Jahren auch alle Länder in Europa betrifft. In den letzten Jahren haben die Lieferengpässe in Europa eher zu- als abgenommen – vor allem bei Generika zu Antibiotika, Onkologika, Herz-Kreislauf-Mitteln, Analgetika, Antidiabetika und Psychopharmaka.

Illustration: Arzneimittel Lieferengpässe Versorgung

Im Unterschied zur europäischen Entwicklung konnte in den USA aufgrund einer engen Zusammenarbeit zwischen der US-amerikanischen Behörde Food and Drug Administration (FDA), den pharmazeutischen Unternehmern und den für die Arzneimittelversorgung verantwortlichen Akteuren im Gesundheitssystem die Zahl der „Drug Shortages“ inzwischen deutlich reduziert werden.

Situation in Deutschland

In Deutschland versteht man unter einem Lieferengpass eine über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung des Arzneimittels oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und werden meist unterteilt in herstellungsbedingte beziehungsweise nachfragebedingte Lieferengpässe sowie Lieferengpässe infolge von Preis- und Erstattungsregulierungen. In den letzten Jahren haben zudem Qualitätsprobleme im Herstellungsprozess (zum Beispiel Verunreinigung mit Nitrosaminen) beziehungsweise in der Lieferkette zu Lieferengpässen in Deutschland geführt. Wesentliche Gründe hierfür sind die im letzten Jahrzehnt aus ökonomischen Gründen zunehmend erfolgte Verlagerung der Herstellung von Wirkstoffen sowie fertigen Arzneimitteln nach Asien (vor allem China und Indien) sowie die daraus resultierenden Probleme infolge komplexer und mitunter fragmentierter Lieferketten.

Deshalb wurde im Rahmen des Pharmadialogs ein „Jour fixe“ zum Thema Lieferengpässe unter Beteiligung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) sowie der medizinischen Fachkreise etabliert. Zudem hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) seit 2017 verschiedene Gesetze verabschiedet – mit dem Ziel einer Verringerung der Lieferengpässe und Verbesserung der Arzneimittelversorgung. Hierzu zählen das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG, 2017), das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV, 2019) und das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG, 2020).

Diese Gesetze konnten jedoch nicht verhindern, dass auch aktuell (Stand: 20. Juli 2020) 357 offene Lieferengpässe (ohne Impfstoffe) zu Arzneimitteln beim BfArM gemeldet wurden, darunter allerdings zahlreiche Meldungen zu unterschiedlichen Dosen desselben Arzneimittels. Glücklicherweise sind bei Weitem nicht alle dieser Arzneimittel für die Versorgung relevant, da es zu vielen Wirkstoffen medikamentöse Alternativen gibt. Neben den offenen Lieferengpässen wird deshalb vom BfArM auch eine Liste der versorgungsrelevanten Wirkstoffe veröffentlicht, regelmäßig auf Aktualität geprüft und gegebenenfalls angepasst. Für pharmazeutische Unternehmen besteht eine Selbstverpflichtung zur Meldung von Lieferengpässen für versorgungsrelevante Arzneimittel.

Aufgrund der Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Lieferengpässen bei Arzneimitteln, die vor allem für die Behandlung von Patienten auf Intensivstationen benötigt werden, hat das Problem der Lieferengpässe verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Erfreulicherweise sind die durch die Pandemie ausgelösten Lieferengpässe infolge von Produktionsausfällen in Asien, Störungen in der Lieferkette und Exportverboten weniger dramatisch verlaufen als anfangs befürchtet. Grund zur Sorge in Deutschland war während des Höchststandes der Pandemie jedoch die Verknappung von den auf Intensivstationen dringend benötigten Arzneimitteln (zum Beispiel Analgetika, Sedativa, vasoaktive Wirkstoffe, Antibiotika). Auch aufgrund der drohenden zweiten SARS-CoV-2-Ansteckungswelle wurde eine Task Force beim BfArM etabliert zur Sicherstellung der medikamentösen Versorgung in der Intensivmedizin. Bei Arzneimitteln, die aktuell zur Behandlung von Covid-19 eingesetzt werden (zum Beispiel Dexamethason, Remdesivir) ist laut BMG die Versorgung in Deutschland derzeit gesichert.

Produktion zurückverlagern

Als eine wesentliche Maßnahme zur Beseitigung von Lieferengpässen haben sich die Bundesärztekammer (BÄK) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) wiederholt in gemeinsamen Stellungnahmen für eine Rückverlagerung der Produktionskapazitäten von Arzneimitteln nach Europa ausgesprochen. Es geht darum, Lieferwege zu verkürzen, die Überwachung der Arzneimittelherstellung sowie die Transparenz hinsichtlich der Ursachen von Lieferengpässen zu verbessern – und gleichzeitig die Einhaltung europäischer Standards, etwa bei Umweltschutz, Produktionssicherheit und Arbeitsbedingungen, zu garantieren. Wesentlich ist aber auch, die Verpflichtungen für pharmazeutische Unternehmen zu konkretisieren und deren Einhaltung besser zu überwachen. Dabei geht es um Meldepflichten bei absehbaren oder bestehenden Engpässen beziehungsweise beabsichtigter Einstellung der Produktion sowohl an die zuständigen nationalen Stellen als auch an die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA).

Arzneimittelstrategie für Europa

Die am 16. Juni 2020 von der Europäischen Kommission gestartete öffentliche Konsultation zur „Arzneimittelstrategie für Europa“ verfolgt unter anderem das Ziel, allen Patienten Zugang zu einer optimalen Versorgung und erschwinglichen Arzneimitteln zu verschaffen. Dies erfordert aber auch die Beseitigung von Lieferengpässen bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln und setzt voraus, dass die Abhängigkeit der EU von Einfuhren aus (asiatischen) Drittländern, vor allem bei Generika, deutlich verringert werden kann.

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