Die Covid-19-Pandemie hat Europa kalt erwischt. Grenzen wurden geschlossen, wichtige Versorgungsgüter im eigenen Land gehalten. Solidarität sieht anders aus. Helmut Kohl hatte einst mit Blick auf das europäische Projekt gesagt: „Das Wichtigste ist das Vertrauen.“ Dieses Vertrauen hat gelitten. Doch es gab auch gute Momente. Deutschland hat seine Krankenhäuser für Covid-19-Patientinnen und -Patienten unbürokratisch geöffnet. Auch das Koordinierungsrecht, das die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa einheitlich regelt, hat den Härtetest gut bestanden. Darauf kann man stolz sein.
Die Coronakrise hat die Verletzlichkeit des alten Kontinents gezeigt – Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker wünschen jetzt Sicherheit. Viel ist in diesen Tagen die Rede von einer neuen, strategischen Unabhängigkeit Europas. Ausfuhrstopps aus Indien und China haben die Abhängigkeit nicht nur bei der Schutzausrüstung, sondern auch bei wichtigen Arzneimitteln schmerzhaft deutlich gemacht. Wichtige Produkte wie Antibiotika waren darunter. In einer kraftvollen Entschließung hat das Europäische Parlament in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause angemahnt, Europa müsse bei medizinischen Gütern seine Souveränität zurückerlangen. Auch Deutschland ist dafür, wichtige Produktionen zurück nach Europa zu holen. Im Rahmen ihrer Arzneimittelstrategie, welche die EU-Kommission Ende des Jahres vorstellen will, werden diese Themen eine zentrale Rolle spielen.
Die Reaktionen sind verständlich, werden aber nicht alle Probleme lösen. Wichtig erscheint, dass sich Europa auf seine eigentliche Stärke bezieht. Das ist der Binnenmarkt. Viel wäre gewonnen, wenn es gelingt, eine bessere Marktübersicht zu schaffen; möglichst in Echtzeit. Transparenz ist zwingend erforderlich, um zu sehen, welche Versorgungsgüter verfügbar sind und welche knapp werden. Gerade bei Arzneimitteln und wichtigen Wirkstoffen. Hier ist europäische Zusammenarbeit gefordert.
Arzneimittelengpässe müssen, sobald sie sich andeuten, angezeigt werden, damit Ärzte und Apotheken frühzeitig umplanen können. Sie entstehen auch häufig gar nicht erst, wenn Hemmnisse im grenzüberschreitenden Warenaustausch beseitigt würden. Ein Import beispielsweise von Arzneimitteln sollte nicht an fremdsprachlichen Beipackzetteln oder unterschiedlichen Verpackungen scheitern. Alle würden profitieren, wenn Reserven und Notfallvorräte gemeinsam und dezentral angelegt würden und schnell elektronisch abrufbar wären. Um hier effektiv und effizient handeln zu können, muss sich Europa digital vernetzen. Der Interoperabilität der Systeme kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu. Das viele Geld, das bereitgestellt wird, um die Folgen der Coronakrise aufzufangen, findet hier eine sinnvolle Verwendung.
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