Exom-Diagnostik

Auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Die Exom-Diagnostik kann für viele Patienten mit bisher unklarer Diagnose die Suche nach der Krankheitsursache beenden. Dabei ist hohe Expertise gefragt, die von den Ersatzkassen durch einen besonderen Versorgungsvertrag sichergestellt wird.

Gen-Sequenzierung: Visualisierung am Computer

Wenn von einer Erkrankung nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, wird diese als „selten“ definiert. Dabei ist „selten“ hierbei nur relativ. Zwar betreffen die meisten der seltenen Erkrankungen tatsächlich nur eine kleine Gruppe von Patienten. Aufgrund der großen Zahl unterschiedlicher seltener Erkrankungen – man geht schätzungsweise von 6.000 bis 8.000 aus – treten sie jedoch in Summe häufig auf. In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Damit liegt die Zahl der Betroffenen hierzulande insgesamt so hoch wie bei mancher Volkskrankheit.

Sichere Diagnosen stellen

Doch wie findet man heraus, welche Krankheit hinter der Leidensgeschichte eines Patienten oder gar einer ganzen Familie steckt? Da die meisten (ca. 80 Prozent) der seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind, treten die ersten Symptome bei Betroffenen häufig bereits sehr früh im Kleinkind- oder Kindesalter auf. Die Kinder und Familien müssen dann oft eine lange Liste mit unzähligen Diagnostikmaßnahmen und Therapieversuchen bei verschiedensten Ärzten und Therapeuten über sich ergehen lassen, bis die richtige Diagnose gefunden wird – wenn sie denn gefunden wird. In vielen Fällen kann trotz umfangreicher Untersuchungen keine Diagnose gestellt werden. Eine Diagnosestellung ist jedoch Voraussetzung, um eine gegebenenfalls zur Verfügung stehende zielgerichtete Therapie einleiten und die Entwicklungsprognose des Patienten abschätzen zu können. Auch stellt sich Eltern und Angehörigen die Frage, welches Wiederholungsrisiko für die Familie besteht.

Für die behandelnden Ärzte sind seltene Erkrankungen ebenfalls eine besondere Herausforderung. Meistens sind die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aufwändig und in der klinischen Routine vergleichsweise wenig standardisiert. Gerade wenn mehrere Organsysteme betroffen sind, ist die Expertise verschiedener Fachrichtungen gefragt. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit sowohl zwischen den verschiedenen Behandlern als auch zwischen der klinischen Medizin und der Forschung von großer Bedeutung für eine frühzeitige und sichere Diagnosestellung. In Deutschland hat sich in den letzten Jahren eine flächendeckende Vernetzung von Zentren für Seltene Erkrankungen unterschiedlicher Versorgungsschwerpunkte und -stufen entwickelt.

Ersatzkassen schließen Versorgungsvertrag

Es gibt jedoch auch in diesen spezialisierten Zentren noch Patienten, bei denen trotz aller vorhandenen Kompetenzen und des verfügbaren Know-hows bisher keine klare Diagnosestellung möglich war, aber der Verdacht auf eine seltene Erkrankung besteht. Für diese Versicherte hat der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) mit der Charité Berlin, dem Universitätsklinikum Bonn und dem Universitätsklinikum Tübingen einen besonderen Versorgungsvertrag geschlossen. Durch einen gestuften Prozess und zielgerichtete Maßnahmen zur Diagnosestellung sollen insbesondere lange Leidenswege der Patienten verkürzt werden. Weitere Zentren, die die Qualitätsvoraussetzungen erfüllen, können dem Vertrag beitreten. Das gilt auch für andere Krankenkassen.

Befunde von allen Seiten beleuchten

Im Fokus des Versorgungskonzepts stehen Fallkonferenzen erfahrener Experten aus dem Bereich der Humangenetik mit Fachärzten der betroffenen Fachdisziplinen wie der Kinderheilkunde, der Neurologie oder der Inneren Medizin, um so eine fachübergreifende Beurteilung bzw. Diagnosestellung zu erreichen. Die Experten analysieren die Anamnese und die bisherigen Befunde der Patienten. Durch die Vernetzung der Zentren finden einzelne Fallkonferenzen auch zentrenübergreifend statt.

Die Suche nach der genetischen Ursache

Führen die gemeinsamen Fallkonferenzen noch nicht zum Ziel, kann eine Gendiagnostik Aufschluss über die Krankheitsursache geben. In Deutschland wird zumeist eine „Panel-Diagnostik“ angewandt, die eine definierte Anzahl von Genen untersucht, welche je nach Erkrankungsspektrum festgelegt wird. Bei seltenen, heterogenen Erkrankungen mit hunderten assoziierten Genen ist eine Begrenzung der zu analysierenden Gene nicht immer ausreichend. In ausgewählten Fällen kann die Analyse des gesamten kodierenden genetischen Materials durch eine Exom- Sequenzierung sinnvoll sein. Bei der Exom-Sequenzierung werden die sogenannten Exons des menschlichen Genoms untersucht, also jene Teile, die den Bauplan für Enzyme oder andere Eiweiße enthalten. Die Exons umfassen ca. 1 Prozent des Genoms und ca. 85 Prozent der bisher bekannten krankheitsursächlichen genetischen Varianten. Die Anzahl der in einer Exom-Diagnostik gefundenen Varianten ist sehr hoch. Die Sequenzierung selbst und insbesondere die Einordnung der Ergebnisse bedürfen daher einer besonderen hochspezialisierten Expertise aus einem Team von Wissenschaftlern und Fachärzten für Humangenetik, die gegenwärtig ausschließlich an universitären Zentren sichergestellt werden kann.

Wie bei der Entscheidung für oder gegen eine Exom-Sequenzierung werden auch die genetischen Befunde in den multidisziplinären Fallkonferenzen besprochen und die identifizierten genetischen Varianten mit möglicher Krankheitsrelevanz im Kontext der Anamnese und Symptome bewertet. Bei spezifischen Fragestellungen werden zudem weitere Experten hinzugezogen (beispielsweise Neuroradiologen) oder weiterführende spezifische klinische Untersuchungen eingeleitet, um eine genetische Variante differenzierter beurteilen zu können. In 25 bis 50 Prozent der Fälle kann auf diese Weise eine eindeutige Diagnose gestellt werden und gegebenenfalls eine verfügbare Therapie eingeleitet werden.

Erprobung im Innovationsfondsprojekt

Basis des Versorgungsvertrags sind erste Ergebnisse des Projektes TRANSLATE-NAMSE, das von 2016 bis 2020 durch den Innovationsfonds (G-BA) mit insgesamt 13,4 Millionen Euro gefördert wurde. In TRANSLATE-NAMSE wurde im Verbund von acht universitären Zentren für Seltene Erkrankungen die koordinierte Zusammenarbeit zur Diagnosestellung und Versorgung von Patienten mit seltenen angeborenen Erkrankungen erprobt. Zudem wurde der Übergang von der Kinder- und Jugend- in die Erwachsenenmedizin besser strukturiert. Der Projektname TRANSLATE-NAMSE bezieht sich auf die Umsetzung von Strukturen und Prozessen, wie sie das Nationale Aktionsbündnis für Seltene Erkrankungen (NAMSE) entwickelt und vorgeschlagen hat, um bestehende Initiativen zu bündeln, Forscher und Ärzte zu vernetzen und Informationen zusammenzuführen.

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