Seltene Erkrankungen

Höchste Anforderungen an Diagnostik und Therapie

Die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen (SE) stellt das Gesundheitssystem vor große Aufgaben. Rasche Fortschritte in Diagnostik und ursächlichen Therapien sowie die Digitalisierung bieten große Chancen für eine verbesserte Versorgung.

Symbolbild: Person mit seltener Erkrankung

Seltene Erkrankungen zeichnen sich durch eine geringe Prävalenz aus. Nach der in Europa gültigen Definition gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. In Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen von einer der mehr als 8.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen betroffen. Es handelt sich oft um komplexe Krankheitsbilder, die überwiegend chronisch verlaufen und mit eingeschränkter Lebensqualität und/oder Lebenserwartung verbunden sind. Häufig treten Symptome bereits im Kindesalter auf. Etwa 80 Prozent dieser Krankheiten sind genetisch bedingt, selten sind sie heilbar (1).

Sichere Diagnose entscheidend

Naturgemäß ist der Bekanntheitsgrad der einzelnen seltenen Erkrankungen auch unter Ärzten gering, zumal eine Diagnosefindung häufig durch ein breites phänotypisches Spektrum mit Beeinträchtigung mehrerer Organsysteme erschwert wird. Viele Patienten mit einer SE durchlaufen jahrelange Odysseen von Arzt zu Arzt, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. So geht oft wertvolle Zeit für eine wirkungsvolle Therapie verloren. Es stehen in der Folge ebenfalls nur wenige Spezialisten zur Verfügung. Für eine qualitativ hochwertige Diagnose und Therapie ist daher eine frühzeitige Überweisung und Behandlung in spezialisierten Einrichtungen zielführend.

Zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Patientenvereinigung Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e. V. initiierte das Bundesministerium für Gesundheit im März 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE). Das übergreifende Ziel von NAMSE ist die Verbesserung der Patientenversorgung für Menschen mit SE. Deutschlandweit haben sich mittlerweile 36 Zentren für Seltene Erkrankungen, sogenannte A-Zentren, an den Universitätsklinika gebildet (2). Diese koordinieren jeweils mehrere B-Zentren, die als Fachzentren jeweils auf bestimmte seltene Erkrankungen oder Krankheitsgruppen spezialisiert sind.

Die Zentren für Seltene Erkrankungen sind zentrale Anlaufstelle und Informationsplattform für Patienten und Ärzte und können so Daten zu bestimmten seltenen Erkrankungen sammeln und auswerten. Hier werden unter anderem interdisziplinäre Fallkonferenzen zu unklaren Diagnosen abgehalten und der Aufbau von standardisierten Registern mit strukturierten Behandlungsdaten forciert. Durch die zentrale Erfassung von Patienten und deren Daten verspricht man sich, Studien besser durchzuführen und durch die gewonnenen Erkenntnisse die Erstellung von Diagnose- und Behandlungsleitlinien zu unterstützen (3).

Optimierte Versorgung für Europa

Parallel wurden auf europäischer Ebene seit 2017 durch die EU geförderte Europäische Referenznetzwerke für seltene Erkrankungen geschaffen. Inzwischen gibt es 24 nach Krankheitsgruppen geordnete Netzwerke, die die nationalen Expertenzentren verbinden. Über eine Onlineplattform leisten Experten virtuelle Konsultationen zu unklaren und komplexen Fällen. Übergeordnetes Ziel ist die Optimierung der Versorgung von Patienten mit SE in Europa durch Harmonisierung des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens, strukturierte Wissensvermittlung sowie eine effizientere klinische Forschung.

Grafik: Gemeinsame Charakteristika von seltenen Erkrankungen

Innovative Therapien gefragt

Die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen sind mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die breite geografische Verteilung der Patienten und Wissenschaftler, die sich mit seltenen Erkrankungen befassen, und die kleinen Patientengruppen erschweren die Durchführung klinischer Prüfungen und Zulassungsprozesse. Bis Ende 2020 wurden rund 180 Orphan Drugs gegen 130 Krankheiten in der EU zugelassen. Diese behandeln bisher jedoch nur knapp drei Prozent der heute bekannten SE. Erfolgreiche Beispiele sind Medikamente gegen die spinale Muskelatrophie, die chronische myeloische Leukämie oder den Lungenhochdruck.

Digitalisierung als Chance

Die Digitalisierung nimmt zunehmend Einzug in das Gesundheitssystem. Menschen mit seltenen Erkrankungen müssen häufig sektorenübergreifend behandelt werden. Eine gute Kommunikation zwischen den Versorgern ist unerlässlich. Im Rahmen des Versorgungsprojektes TRANSLATE-NAMSE wurde am Heidelberger Standort eine persönliche, einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakte geschaffen. Diese ermöglicht den behandelnden Ärzten den Zugriff auf Arztbriefe und Laborbefunde gemeinsamer Patienten über Einrichtungsgrenzen hinweg.

Menschen mit seltenen Erkrankungen müssen im Gesundheitssystem für Versorgung und Forschung gleichermaßen sichtbar sein. Eine präzise Kodierung von SE sollte auf der Grundlage von internationalen Klassifikationen deutschlandweit einheitlich erfolgen. Der Forschungsverbund CORD-MI der Medizininformatikinitiative hat sich zum Ziel gesetzt, die Dokumentation in Kliniken zu verbessern und zu vereinheitlichen. Dies ermöglicht, Daten standortübergreifend zu nutzen. Dadurch sollen neue patientennahe Forschungsprojekte, z. B. klinische Studien, angestoßen und seltene Erkrankungen sichtbarer gemacht werden. Auch Selbsthilfegruppen entwickeln sich mehr und mehr zu einer zentralen Versorgungssäule. Deren internationale Vernetzung steht ebenfalls auf dem Plan: Sie soll künftig schneller und intensiver erfolgen.

Fazit: Patienten mit seltenen und komplexen Erkrankungen stellen höchste Anforderungen an Diagnose, Therapie und Infrastruktur der Medizin und sind zumeist in Universitätsklinika zentralisiert. Eine sektorenübergreifende Versorgung ist unerlässlich. Neben Bündelung des Expertenwissens am Standort muss die Vernetzung mit nationalen und internationalen Experten vorangetrieben werden.

Quellen:

  1.  www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/seltene-erkrankungen.html. Abgerufen 11.03.2021
  2.  G. F. Hoffmann et al: Seltene Erkrankungen in der Pädiatrie – von der Diagnostik und Behandlung einzelner Erkrankungen zum Aufbau von Netzwerkstrukturen. Monatsschr Kinderheilkd (2020). doi.org/10.1007/s00112-020-00978-w
  3.  www.data4life.care/de/bibliothek/journal/diagnose-unterstuetzung-seltene-erkrankungen. Abgerufen 09.03.2021

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