Pflegereform

Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Gesundheitsminister Jens Spahn hatte ehrgeizige Pläne für eine Pflegereform. Für die Soziale Pflegeversicherung sollten eigentlich noch in dieser Legislaturperiode wichtige gesetzgeberische Weichenstellungen vorgenommen werden.

Symbolbild: Häusliche Pflege

Die Verbesserung der Bezahlung sowie der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, die finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen sowie eine zukunftsfeste Finanzierung dieses wichtigen Sozialversicherungszweiges sind sozial- und gesellschaftspolitische Aufgaben, die dringend angegangen werden müssen. Nun liegt eine Reform vor, die sich kurz vor der Bundestagswahl und dem damit einhergehenden Wahlkampfgetöse durch das parlamentarische Verfahren gekämpft hat. Ohne Zweifel, eine umfassende Pflegereform sieht anders aus. Sind die vom Bundestag am 11. Juni 2021 verabschiedeten gesetzlichen Änderungen dennoch ein guter erster Schritt oder wieder nur Flickwerk?

Im Mittelpunkt der Neuregelungen in der Pflegeversicherung steht die finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen. Diese ist auch dringend geboten, da die Eigenanteile in den letzten Jahren und Monaten kontinuierlich angestiegen sind. Die finanzielle Belastung eines stationär versorgten Pflegebedürftigen, die dieser selbst zu tragen hat, belief sich zuletzt durchschnittlich auf insgesamt 2.125 Euro im Monat und ist allein binnen eines Jahres um 110 Euro gestiegen. Daher wurde nun eine gestaffelte Beteiligung der Pflegeversicherung an den pflegebedingten Eigenanteilen geregelt. Danach erhalten Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen (Pflegegrade 2 bis 5) im ersten Jahr einen Zuschlag von fünf Prozent, im zweiten Jahr von 25 Prozent, ab dem vierten Jahr (dann unbegrenzt) einen Zuschuss von 70 Prozent zum pflegebedingten Eigenanteil. Vielen Sozialverbänden geht diese Regelung nicht weit genug, da sie „lediglich“ die pflegebedingten Aufwände in Höhe von 873 Euro im Monat entlastet, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (791 Euro/Monat) sowie die Investitionskosten (461 Euro/Monat) aber weiterhin voll zu Buche schlagen. Zudem führt die prozentuale Ausgestaltung dazu, dass es keinen festen Deckel gibt und somit die weiterhin selbst zu tragenden Anteile in naher Zukunft (wieder) weiter steigen werden. Dennoch ist die Regelung ein wichtiger Schritt und insgesamt – vor allem auch mit Blick auf die notwendige Gegenfinanzierung – ein durchaus ausgewogener Ansatz.

Bessere Bezahlung und erheblich mehr Bürokratie

Daneben wurden für die ambulant versorgten Pflegebedürftigen die monatlichen Leistungsbeträge um fünf Prozent angehoben, um einen Ausgleich für die steigenden Kosten für tarifliche Entlohnung zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurde auch der jährliche Höchstbetrag für Kurzzeitpflege um immerhin zehn Prozent angehoben. Auch das bedeutet eine gewisse Entlastung bzw. Kompensation für die Pflegebedürftigen. Man hätte sich jedoch gerade für den ambulanten Sektor mehr finanziellen Spielraum gewünscht, denn auch hier werden die Kosten für die zu Hause versorgten Pflegebedürftigen deutlich steigen. Hier ist zum Beispiel das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichtes zu nennen, das die Kosten für die 24-Stunden-Pflege durch ausländische Pflege- und Betreuungskräfte deutlich erhöhen wird. Unverständlich ist es hingegen, dass es wieder versäumt wurde, eine regelhafte und verbindliche Dynamisierung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung gesetzlich zu verankern. Diese hätte für die Zukunft dafür gesorgt, dass die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung nicht an Wert verlieren und so zu einer finanziellen Entlastung der Pflegebedürftigen beitragen. Gleiches gilt im Übrigen für eine verbindliche finanzielle Beteiligung der Länder an den Investitionskosten, die auch nicht in der Reform angegangen wurde. Aktuell zahlen die Pflegebedürftigen, die stationär versorgt werden, jeden Monat durchschnittlich 461 Euro für Investitionskosten. Würden die Länder endlich ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen, dann würden die Pflegebedürftigen hier sehr deutlich entlastet. So bleibt es also dabei, dass am Ende des Tages die pflegebedürftigen Menschen für das fehlende finanzielle Engagement der Länder und Kommunen in die Pflicht genommen werden.

Es ist politisch unstrittig, dass die Bezahlung der Pflegekräfte angemessen sein und die Arbeitsbedingungen verbessert werden müssen. Mit Blick auf eine angemessenere Bezahlung der Pflegekräfte wurden nun Regelungen eingeführt, die komplex und in sich nicht widerspruchsfrei sind. So sollen ab dem 1. September 2022 nur noch Versorgungsverträge mit Pflegeeinrichtungen geschlossen werden, die ihren Beschäftigten im Pflege- und Betreuungsbereich eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsverträgen vereinbart ist. Sofern eine Einrichtung nicht direkt an einen solchen Tarifvertrag gebunden ist, muss sie angeben, welcher Tarifvertrag für sie maßgebend ist. Um die bezahlten Gehälter am Ende des Tages über den Pflegesatz gegenfinanziert zu bekommen, muss entweder eine direkte Tarifbindung bestehen oder im Falle, dass der Tarifvertrag nur „maßgebend“ ist, nachgewiesen werden, dass die Gehälter die regional tarifliche Entlohnung nicht um zehn Prozent überschritten. Liegt der Tarif darüber, erfolgt keine volle Gegenfinanzierung. Die Pflegekassen und deren Verbände sollen dieses bürokratische Ungetüm (wie und mit welchem Aufwand ermittelt man einen regional durchschnittlichen Tariflohn, der sich zudem jährlich ändert?) steuern und überwachen. Sie werden damit in die Rolle einer „Tarifaufsicht“ gedrängt. Das sind aber sicher nicht Rolle und Aufgabe der Pflegekassen und deren Verbände. Nicht nur die privaten Anbieter befürchten hier eine stark überzogene Regulierung des Pflegemarktes.

Stärkung des Pflegeberufes und bessere Personalausstattung

Ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Pflegeberufs sind die neuen Regelungen zur Erweiterung der Handlungskompetenzen der Pflegefachkräfte und die Einführung eines bundesweit einheitlichen Personalbemessungssystems in der vollstationären Versorgung. Beide Themen wurden intensiv im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) beraten und nun gesetzlich verankert. So können Pflegefachkräfte zukünftig im Rahmen eines vertragsärztlich festgelegten Verordnungsrahmens bei ausgewählten Leistungen der häuslichen Krankenpflege über die erforderliche Häufigkeit und Dauer der Maßnahmen bestimmen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in einer Richtlinie die Einzelheiten festzulegen. Die Intention, den Pflegefachkräften erweiterte Kompetenzen zuzugestehen, ist durchaus richtig, auch wenn man hier sicherlich etwas mutiger hätte sein können. Denn vorerst bleibt der Handlungsspielraum „nur“ auf die Festlegung von Dauer und Häufigkeit beschränkt.

Ungeklärte Finanzierung

Für eine angemessene und einheitliche Personalbemessung wird für vollstationäre Pflegeeinrichtungen verbindlich ein bundesweites Verfahren eingeführt, das auf den wissenschaftlichen Überlegungen von Prof. Dr. Heinz Rothgang beruht. Die damit einhergehenden bundesweit einheitlichen Vorgaben werden in den Ländern zu einer Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der jeweiligen landesrechtlichen Regelungen führen müssen. Abzuwarten bleibt, ob und wie die notwendigen Hilfs- und Fachkräfte dann überhaupt gefunden werden können. Das zusätzliche Personal – nach Hochrechnung der Wissenschaft ist immerhin 36 Prozent mehr Personal überwiegend im Hilfskräftebereich erforderlich – wird in Verbindung mit der besseren Entlohnung die Kosten für die stationäre Versorgung weiter erhöhen und damit den Druck auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen wieder steigen lassen.

Infografik: Finanzielle Belastung eines Pflegebedürftigen (stationär)

Die große Schwachstelle der vorgelegten Reform bleibt deren unzureichende Finanzierung. Allein die Entlastung der Pflegebedürftigen kostet nach ersten Schätzungen mindestens 2,5 Milliarden Euro jährlich. Zur Gegenfinanzierung vorgesehen sind aber faktisch nur eine pauschale Beteiligung des Bundes in Höhe von einer Milliarde Euro jährlich sowie eine Anhebung des Beitragssatzes für Kinderlose um 0,1 Beitragssatzpunkte (zum 1. Juli 2021). Letzteres bringt der Sozialen Pflegeversicherung rund 0,4 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr. In diesem Zusammenhang ist es auch unverständlich, dass die ursprünglich angedachte Erstattung aus Steuermitteln für die Rentenversicherungsbeiträge von Pflegepersonen „sang- und klanglos“ wieder gestrichen wurde und die Finanzierung somit weiterhin über die Pflegeversicherung erfolgt – trotz des gesamtgesellschaftlichen Charakters dieser Aufgabe. So muss denn leider konstatiert werden, dass sich die finanzielle Lage der Sozialen Pflegeversicherung eher weiter zuspitzen wird. Eine solide Gegenfinanzierung ist das jedenfalls nicht. Angesichts der enormen finanziellen Herausforderungen bleibt auch unerklärlich, warum die private Pflegeversicherung nicht endlich am gemeinsamen Solidarausgleich beteiligt wird. Denn bis heute findet hier keine ausgewogene Lastenverteilung zwischen den beiden Systemen statt, da die Versicherten in der privaten Pflegeversicherung eine erheblich günstigere Alters- und Versichertenstruktur aufweisen. Ein solcher Finanzausgleich könnte die Soziale Pflegeversicherung um bis zu zwei Milliarden Euro pro Jahr entlasten.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die vorgelegte kleine Pflegereform inhaltlich nicht immer so schlecht ist wie ihr Ruf, greift sie doch einige zentrale politische Fragestellungen in der Pflegepolitik auf. Hier kann man der aktuellen Bundesregierung zugutehalten, dass sie auf den letzten Metern ihrer Legislatur immerhin richtige Zeichen gesetzt hat – trotz Wahlkampfmodus. Das große Manko ist aber der Umstand, dass sich eine neue Bundesregierung schon sehr bald wieder mit der Pflegeversicherung wird befassen müssen. Denn auf der Finanzierungsseite wurde wahre „Flickschusterei“ betrieben und das Problem einer langfristig tragfähigen Finanzierung an die Nachfolgeregierung delegiert.

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