Interview mit Prof. Dr. Jonas Schreyögg

„Einen weiteren Anstieg der Beitragssätze kann sich die neue Regierung nicht leisten“

Mit der neuen Bundesregierung von Union und SPD eröffnet sich die Chance auf einen gesundheitspolitischen Neustart. Im Interview mit ersatzkasse magazin. erläutert Prof. Dr. Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg und stellvertretender Vorsitzender im Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR), welche Reformen in dieser Legislaturperiode notwendig sind, um die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nachhaltig zu konsolidieren und die Versorgung für die Versicherten zu verbessern.

Prof. Dr. Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg

Herr Prof. Dr. Schreyögg, die schwarz-rote Bundesregierung mit Nina Warken (CDU) als neuer Bundesgesundheitsministerin ist im Amt. Jetzt kommen große Aufgaben auf sie zu, insbesondere was die Stabilisierung der Beitragssätze in der GKV anbelangt. Trotz Beitragssatzerhöhungen Anfang des Jahres rechnen wir mit einer neuen Beitragssatzerhöhung in 2026. Wie bewerten Sie den Koalitionsvertrag in Sachen Finanzierung?

Prof. Dr. Jonas Schreyögg: Bei dem enormen Defizit, das sich derzeit in der gesetzlichen Krankenversicherung auftut, wird die neue Bundesregierung nicht darum herumkommen, einen Teil davon durch Steuerzuschüsse zu decken. Das hat die Ministerin ja auch bereits angekündigt. Die Bundesregierung wird es nicht zulassen können, dass die Beitragssätze ins Unermessliche steigen. Deswegen wird es am Ende einen begrenzten Zuschuss geben, wobei es sicherlich nicht auf eine dauerhafte Zusage für die finanzielle Übernahme bestimmter versicherungsfremder Leistungen hinauslaufen wird.

Wir reden hier über 20 Milliarden Euro für 2025/2026 allein für die kostendeckende Beitragssätze für Bürgergeldempfangende – das ist schon ein großer Batzen.

Momentan wird spekuliert, dass ein Teil des Geldes über den Bundeszuschuss erfolgt und ein anderer Teil als Kreditaufnahme – also, dass der Bund der GKV das Geld leiht. Nachhaltig wäre das aber aus meiner Sicht nicht. Denn das Problem bleibt ja bestehen. Es liegt nicht an der Einnahmeseite, sondern vor allem an der Ausgabenseite. Über Jahre wurden seitens der Politik schlichtweg die Reformen, die auf der Agenda standen, nicht umgesetzt.

Kommen wir zur Ausgabenseite: Die Ausgaben steigen Jahr für Jahr in allen Leistungsbereichen stark an. Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben wird immer größer. Brauchen wir zur kurzfristigen Stabilisierung ein Ausgabenmoratorium oder weitere Sparmaßnahmen, die zu einer schnellen Stabilisierung der Beitragssätze führen?

Unbedingt. An kurzfristigen Kostendämpfungsmaßnahmen, etwa einem Preismoratorium und auch einer Dynamisierung der Zuzahlungen, führt kein Weg vorbei. Es gibt einen großen Katalog, auf den man zurückgreifen könnte, unter Umständen auch auf das Instrument von Globalbudgets. In der ambulanten Versorgung gibt es mit der sogenannten budgetierten morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) bereits ein Globalbudget in der vertragsärztlichen Versorgung. Das würde analog in der stationären Versorgung, also im größten Ausgabenblock der GKV, auch funktionieren – also, dass es ein jährliches Gesamtbudget gibt. Wird dieses überschritten, dann werden alle erbrachten Erlöse pro Fall um den entsprechenden Betrag gekürzt.

Dagegen wehren sich die Ärzteschaft und Krankenhäuser aber vehement.

Das Problem ist doch in beiden Sektoren, dass wir dort eine erheblich höhere Inanspruchnahme haben als andere Länder: Im stationären Sektor sind wir Weltmeister und im ambulanten Sektor gehören wir auch zu den Ländern in der OECD mit der höchsten Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen pro Kopf. Daher ist es im ambulanten Sektor wichtig, Jahrespauschalen in der ärztlichen Honorierung einzuführen – und ein verbindliches Primärarztsystem, so wie es im aktuellen Koalitionsvertrag auch vorgesehen ist. Und es kommt natürlich sehr auf die konkrete Ausgestaltung an. Bei einem solchen System sind idealerweise digitale Überweisungen nötig, die eine Priorisierung setzen und genau angeben, warum überwiesen wird. Zusätzlich braucht es eine zeitliche Priorisierung durch die Hausärztin beziehungsweise den Hausarzt, sodass die Spezialistinnen und Spezialisten wissen, wie sie mit diesen Fällen umgehen müssen. Dann wird auch zu überlegen sein, wie das finanziell incentiviert wird, entweder auf der Spezialistenebene oder auf der Ebene der Versicherten. So kennen wir das beispielsweise aus Frankreich, dass Versicherte zuzahlen, wenn sie einen nicht koordinierten Facharztbesuch wahrnehmen.

Die Ersatzkassen und der vdek haben ein etwas erweitertes Modell in Form eines persönliches Ärzteteams in der Regelversorgung vorgeschlagen, das aus einem Hausarzt beziehungsweise einer Hausärztin und maximal drei grundversorgenden Fachärztinnen beziehungsweise Fachärzten und einer telemedizinischen Ersteinschätzung besteht. Vorteil wäre, dass es hier nicht zu einem Engpass in der hausärztlichen Versorgung führen würde, da die Patientinnen und Patienten nicht zwingend erst zum Hausarzt gehen müssen.

Aus meiner Sicht haben wir nicht generell zu wenige Hausarztpraxen, allerdings ergeben sich in immer mehr ländlichen Gebieten Engpässe, was aber auch in Teilen auf die Anreize der Quartalspauschale zurückzuführen ist. Wir haben uns das vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung berechnen lassen. Danach haben 90 Prozent der Bevölkerung immer pro Quartal einen Hausarztkontakt. Zudem nutzen rund 5 Prozent der Frauen Gynäkologinnen und Gynäkologen in Hausarztfunktion, dann sind wir bei 95 Prozent – und in den vorgenannten 90 Prozent sind Kinder und Jugendärzte auch enthalten, die ich auch in Hausarztfunktion sehe. Dann haben wir nur noch 5 Prozent der Bevölkerung, die zumindest keinen regelmäßigen Hausarztkontakt haben.

Rechnen Sie mit Einsparungen durch die Einführung eines Primärarztsystems?

Es wird deutlich weniger unkoordinierte Arztkontakte geben und geringere Wartezeiten im Spezialistenbereich. Hinzu kommt die Einführung von Jahrespauschalen, die wiederum Kapazitäten im Hausarztbereich schaffen wird und damit auch Spezialistenbesuche reduzieren könnte. Da wir dann höhere Auszahlungsquoten haben, wird sich in vielen Facharztgruppen die Frage der Endbudgetierung mehr oder weniger erledigen. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass ein hausarztzentriertes System auch die Krankenhausaufenthalte, die im Gesundheitssystem am kostenintensivsten sind, reduziert. Die Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg kommt auf eine Reduktion von 9 Prozent. Aber all dies beruht natürlich auf der Annahme, dass das einzuführende Primärarztsystem gut konzipiert und effektiv ist.

Der Krankenhausbereich ist der größte Ausgabenblock in der GKV mit rund 100 Milliarden Euro jährlich, Tendenz steigend. Was versprechen Sie sich denn insgesamt an Entlastungen durch die Krankenhausreform?

Grundsätzlich halte ich die Krankenhausreform für richtig und notwendig, weil es die Länder dazu bringt, besser nach einheitlichen Qualitätsvorgaben zu planen. Allerdings sehe ich nicht, dass wir durch die Krankenhausreform wesentliche Einsparungen bekommen werden. Die Einführung einer Vorhaltevergütung ist zum Beispiel im Prinzip eine gute Idee, aber die Entlastungswirkung ist problematisch, da auch nicht bedarfsnotwendige Krankenhäuser davon profitieren würden. Außerdem benötigt nicht jedes Krankenhaus eine Vorhaltepauschale. Ich würde dafür plädieren, die Vorhaltepauschale stärker an den Sicherstellungszuschlag und dessen Kriterien zu binden. Dann würde das Geld auch wirklich bei den Krankenhäusern ankommen, die bedarfsnotwendig sind und es zum Überleben benötigen. Dies entspräche unserem Vorschlag im SVR-Gutachten 2018. Auch bei den Geldern, die jetzt aus dem Transformationsfonds in Höhe von jährlich 2,5 Milliarden Euro an die Krankenhäuser zur Verbesserung der Strukturen gezahlt werden sollen, bin ich skeptisch. Hier muss man aufpassen, dass das nicht zu breit definiert wird. Das müsste im Sinne einer wirklichen Transformation definiert werden. Vor allem haben wir wie im Strukturfonds das Problem, dass viele nicht bedarfsnotwendige Krankenhäuser gefördert werden können. Hierfür wäre es erforderlich, dass Bundesländer einen Plan einreichen müssen, der nach durch den G-BA zu definierenden Kriterien darlegt, warum einzelne Krankenhäuser bedarfsnotwendig sind. Ob diese Mittel nachhaltig verausgabt werden, müssen wir deshalb im weiteren Verlauf erst beobachten.

Wie sieht es mit der Ambulantisierung aus? Hier stehen die Hybrid- DRG im Fokus.

Der Ambulantisierungsprozess muss – sowohl aus Sicht der Versorgung als auch was die Wirtschaftlichkeit der Versorgung anbelangt – dringend fortgesetzt werden. Es ist gerade der Charme und auch die Idee der Ambulantisierung, dass sie eine wohnortnahe Versorgung gewährleisten kann – selbst bei Schließung eines Krankenhauses. Hier kommt den Hybrid-DRG eine ganz wesentliche versorgungsgestaltende Funktion zu. Aber wir brauchen aus meiner Sicht einen Neustart. Das Hauptproblem bei den 2024 eingeführten Hybrid-DRG ist, dass wir von Eintagesfällen ausgehend mit einer Mischvergütung gestartet sind, die zu wenig Anreize für Krankenhäuser bietet, mehr Operationen ambulant durchzuführen. Das gilt auch für die Regelung im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, die Höhe der Hybrid-DRG sukzessive bis 2030 auf das Niveau des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes EBM abzusenken. Gerade in puncto Anreize können wir uns an anderen Ländern orientieren. In England gibt es beispielsweise das Instrument der Übervergütung, die Krankenhäuser für bestimmte Prozeduren, die einen besonders geringen Ambulantisierungsgrad aufweisen, erhalten, wenn sie eine Prozedur ambulant erbringen anstatt stationär. Und in Frankreich gibt es zumindest eine attraktivere Vergütung, damit Krankenhäuser stationäre Prozeduren ambulant erbringen. Das brauchen wir auch hier in Deutschland, nämlich den Krankenhäusern einen Anreiz zu bieten, stationäre Fälle ambulant zu erbringen, sodass sie die ambulante Leistungserbringung auch als attraktives Geschäftsfeld wahrnehmen. Wenn ambulante Operationen finanziell attraktiver vergütet werden, wird es Chirurginnen und Chirurgen geben, die solche Operationen in einem ambulanten OP-Zentrum durchführen.

Auch im Arzneimittelbereich rollt eine Kostenlawine, insbesondere durch neue innovative Medikamente auf uns zu. Wie lässt sie sich abwenden?

Wenn nichts unternommen wird, kommt die Kostenlawine auf jeden Fall. Von 2023 auf 2024 hatten wir im Arzneimittelbereich den höchsten Kostenanstieg. Er lag dort bei 10 Prozent, in der stationären Versorgung waren es 8 Prozent. Gerade bei den neuen Gentherapeutika kommt eine gewaltige Lawine auf uns zu, deshalb brauchen wir dringend ein neues System der Arzneimittelbepreisung. Wir haben viel zu hohe Preise, vor allem für patentgeschützte Arzneimittel, die keinen oder einen geringen Nutzen ausweisen. Und wir sehen im Vergleich zu anderen Ländern wie Österreich und Frankreich, dass es dort deutlich geringere Preise gibt für neu auf den Markt kommende Arzneimittel. Hier werden im gerade veröffentlichten neuen SVR-Gutachten „Preise innovativer Arzneimittel in einem lernenden Gesundheitssystem“ Vorschläge gemacht, um auch in den nächsten Jahren eine nachhaltige Finanzierung von innovativen Arzneimitteln zu ermöglichen.

Welchen Rat würden Sie der neuen Gesundheitsministerin für die nächsten vier Jahre auf den Weg geben?

Ich würde ihr den Rat geben, auf die Fachebene im Bundesgesundheitsministerium zu hören, denn dort gibt es bereits eine Menge Vorarbeiten zu den Reformen aus den verschiedensten Legislaturperioden, die nur umgesetzt werden müssen. Zudem würde ich ihr mit auf den Weg geben, bestimmte Kostendämpfungsmaßnahmen jetzt anzugehen, um den Druck nicht zu hoch werden zu lassen. Und parallel in Ruhe die Reformagenda abzuarbeiten – und dabei mit den Reformen zu beginnen, die eine schnelle Entlastungswirkung versprechen, wie zum Beispiel die Hybrid-DRG, das Primärarztsystem, die Notfallreform und die Reform der Arzneimittelbepreisung. Wenn die neue Regierung diese vier Reformprojekte noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringt, wird sie damit Geschichte schreiben. Die Wirkung wird sich natürlich nicht sofort entfalten, es werden sicherlich Nachsteuerungen nötig sein. Aber essenziell wäre es, die Reformen überhaupt schon einmal auf den Weg zu bringen.

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