In kaum einem anderen Land sind neue Arzneimittel so schnell und umfänglich verfügbar wie in Deutschland. Die Ausgaben dafür steigen jedoch kontinuierlich und sind inzwischen – nach der Krankenhausversorgung – der zweitgrößte Kostenfaktor für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR) warnt vor einer Überforderung des Systems und zeigt Maßnahmen zur Abhilfe auf.

Der medizinisch-technische Fortschritt hat in den letzten Jahren zur Entwicklung und Zulassung einer Vielzahl innovativer Therapien geführt. Dies wird allerdings begleitet von rasanten Kostensteigerungen. Das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem steht bereits jetzt unter großem finanziellem Druck. Vor diesem Hintergrund legt der SVR mit seinem Gutachten „Preise innovativer Arzneimittel in einem lernenden Gesundheitssystem“ Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) vor und entwirft die Vision einer dynamischen Arzneimittelbepreisung. Zugleich empfiehlt der Rat gezielte Maßnahmen zur Förderung des Pharmastandorts Deutschland.
Reformierung des AMNOG-Prozesses
Seit 2011 regelt das AMNOG die Bewertung und Bepreisung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Dabei soll sich der verhandelte Preis konsequent nach dem Zusatznutzen des neuen Medikaments richten. In rund der Hälfte der Nutzenbewertungsverfahren kann ein Zusatznutzen nicht belegt werden. Für den jeweiligen Bewertungsprozess empfiehlt der Rat unter anderem die verbindliche Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT), um einen festen Vergleichspunkt zu haben. Des Weiteren schlägt der Rat vor, das „Privileg“ des fiktiven Zusatznutzens für Orphan Drugs abzuschaffen und auch hier eine reguläre Bewertung durchzuführen. Der Orphan-Drug-Status sollte im Rahmen der Preisbildung berücksichtigt werden.
Eine zentrale Empfehlung des Rats ist die Schaffung eines Interimspreises für neue Arzneimittel ab Markteintritt. Das Pharma-Unternehmen kann zwar bei Markteintritt wie bisher „seinen“ Preis festlegen, aber erstattet würde bis zur Einigung zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer (pU) und dem GKV-Spitzenverband (GKV-SV) nur der Preis der zVT. Eine eventuelle Differenz zwischen dem auszuhandelnden Erstattungspreis und der zVT würde nachgezahlt.
Der Rat betont erneut, dass eine Kosten-Nutzwert-Bewertung wichtige Informationen für die Preisfindung liefern kann. Er empfiehlt, diese routinemäßig bei einer definierten Auswahl von Arzneimitteln durchzuführen. Dabei spricht sich der Rat auch für die Erhebung von qualitätsadjustierten Lebensjahren (QALYs) aus. Diese ermöglichen Vergleiche des therapeutischen Nutzens über verschiedene Indikationen hinweg.
Darüber hinaus soll die Verhandlungsposition des GKV-SV gegenüber den pU gestärkt werden. Aktuell können Pharmaunternehmen jederzeit ihre Arzneimittel vom Markt nehmen, während der GKV-SV sich auf einen Preis einigen oder die Preisfestsetzung durch die Schiedsstelle akzeptieren muss. Zukünftig soll er von den Preisverhandlungen zurücktreten können.
Förderung der Evidenzgenerierung
Das aktuelle Preisbildungssystem ist nach Ansicht des Rats zu statisch. In seinem Gutachten schlägt er ein Konzept für ein lernendes Gesundheitssystem vor, bei dem neue Erkenntnisse über den Nutzen eines Medikaments nach Markteinführung und in der klinischen Praxis systematisch gesammelt und für Preisnachverhandlungen genutzt werden. Dafür sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erneute Nutzenbewertungen initiieren können. Diese Möglichkeit hat ein Sozialgerichtsurteil kürzlich infrage gestellt. Hier sollte der Gesetzgeber unverzüglich rechtliche Klarheit schaffen.
Mangelndes Wissen über den Zusatznutzen eines Arzneimittels erschwert sowohl eine bedarfsgerechte Versorgung als auch eine angemessene Preisfindung. Der Rat betont, dass höhere Preise nur für Arzneimittel mit nachgewiesenem Zusatznutzen gerechtfertigt sind. Er empfiehlt, innovative Studienansätze wie registerbasierte Interventionsstudien einzubeziehen, zum Beispiel bei der Bewertung von Orphan Drugs. Dafür dringend notwendig ist die Modernisierung der Forschungs(daten)infrastruktur.
Weiterentwicklung der Preisbildungsinstrumente
Um das Risiko einer unkontrollierten Ausgabenentwicklung zu begrenzen, befürwortet der Rat die Einführung eines jährlich anzupassenden Arzneimittelbudgets für patentgeschützte, hochpreisige Arzneimittel. Wird die Budgetgrenze überschritten, sind anteilige Preisabschläge für alle eingeschlossenen Arzneimittel vorgesehen.
Der Preis eines Medikaments sollte auch angepasst werden, wenn die als Referenz herangezogene zVT günstiger wird. Dies könnte beispielsweise nach Ablauf des Patentschutzes der Fall sein. Dafür ist es notwendig, dass der verhandelte Erstattungspreis in den Komponenten „Kosten der zVT“ und „Preisaufschlag für Zusatznutzen“ ausgewiesen wird. Darüber hinaus empfiehlt der Rat regelhafte Preisanpassungen, die sich nach europäischen Referenzpreisen und den Absatzmengen richten.
Für teure Einmalgaben, bei denen der Therapieerfolg großen Unsicherheiten unterliegt, empfiehlt der Rat den Einsatz von erfolgsabhängigen Vergütungsmodellen (Pay for Performance). Vor dem Hintergrund, dass in Zukunft weitere hochpreisige Arzneimittel zu erwarten sind, hält er zudem eine öffentliche Diskussion über die Zahlungsbereitschaft der Solidargemeinschaft für medizinischen Zusatznutzen für dringend erforderlich.
Förderung des Pharmastandorts Deutschland
Die pharmazeutische Industrie leistet einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Wirtschaftsleistung. Durch verbesserte Rahmenbedingungen sollte diese zukunftsträchtige Branche gezielt gefördert werden. Entsprechende Maßnahmen sollten jedoch nicht aus Mitteln der Solidargemeinschaft finanziert werden. Der Rat hat keine Evidenz dafür gefunden, dass pU ihre Standortentscheidungen an hohe Erstattungspreise knüpfen. Ausschlaggebend scheinen vielmehr, wie Dänemark zeigt, eine gute Dateninfrastruktur und effiziente Verfahren zur Durchführung von Studien zu sein. Daher lehnt der Rat die im Medizinforschungsgesetz vorgesehene Koppelung des Preises an Standortentscheidungen für klinische Forschung in Deutschland ab. Stattdessen empfiehlt der Rat die Etablierung einer zentralen Anlaufstelle für die reibungslose Initiierung klinischer Studien, die Einführung eines Innovationsmonitorings und die bessere Vernetzung und Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten, einschließlich der aus Registern und den elektronischen Patientenakten (ePA).
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