Interview mit Dr. Markus Leyck Dieken, Geschäftsführer der gematik

„Die ePA braucht das Erlebnis des Nutzens“

Gesetzlich Versicherte haben seit dem 1. Januar 2021 ein Anrecht auf die Nutzung einer elektronischen Patientenakte (ePA), die von den Krankenkassen als App kostenlos bereitgestellt wird. Wesentlich verantwortlich für die Realisierung ist die gematik, die unter anderem für die Spezifikationen der ePA zuständig ist. Seit rund anderthalb Jahren ist Dr. Markus Leyck Dieken Geschäftsführer der gematik. Im Interview spricht er über die Herausforderungen der Umsetzung, die Chancen für die Versorgung sowie die Digitalisierung im Gesundheitswesen insgesamt.

Dr. Markus Leyck Dieken, Geschäftsführer der gematik

Sie sind Internist und Notfallmediziner, waren zuletzt in der Pharmabranche tätig. Was reizt Sie an der gematik?

Dr. Markus Leyck Dieken: Meine Motivation rührt vor allem daher, dass ich als Arzt die gematik leite. Dazu kommt, dass ich viele Erfahrungen im digitalen Umfeld im Gesundheitswesen gemacht habe. Es ist wichtig, dass die Digitalisierung den Patienten nicht aus dem Blick verliert und sie gleichzeitig von denen mitgetragen wird, die in Kontakt mit Patienten sind. Beide Seiten müssen davon überzeugt sein, dass ihnen gutes Werkzeug in die Hand gelegt wird. Als Notfallmediziner beispielsweise empfinde ich die digitale Anbindung in Form des Notfalldatensatzes als sehr wichtig. Viele unterschätzen, was als richtungsweisende Daten vorhanden ist, die im Notfall dazu führen, dass der Versicherte im Rettungswagen und in der Notfallaufnahme weit besser versorgt wird. Der Notfalldatensatz wird derzeit noch auf der Krankenkassenkarte abgespeichert, künftig in der ePA, und ich würde mich freuen, wenn wir da noch etwas mehr rausholen könnten.

Die ePA müssen die Krankenkassen ihren Versicherten seit dem 1. Januar 2021 anbieten. Die Nutzung ist freiwillig. Welche Vorteile bringt sie für die Versicherten und warum ist sie für die Versorgung so wichtig?

Die ePA bringt dem Versicherten ganz viel, weil sie zu einer noch besseren Gesundheitsversorgung beiträgt. Welche medizinischen Informationen in die Akte hochgeladen werden und wer darauf zugreifen darf, entscheidet der Patient ganz alleine. Beispielsweise wird den Menschen in der Corona-Zeit immer mehr bewusst, wie wichtig es ist, dass sie einen elektronischen Impfpass haben. Oder nehmen Sie das elektronische Rezept, das künftig automatisch in der ePA abgelegt wird, damit die Medikationsliste immer aktuell ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass man die ePA regelmäßig pflegen sollte, egal ob man krank oder gesund ist. Der Gesunde kann jetzt schon gesunde Befunde ablegen und dieser Normalbefund kann als Referenz wichtig werden, um Veränderungen zu erkennen. Der chronisch Kranke kann sich Doppeluntersuchungen ersparen und zielgerichtete Therapien bekommen.

Die Krankenkassen können die ePA individuell ausgestalten. Ist das auch ein Wettbewerbsfeld?

Auf jeden Fall. Es ist so, dass die gematik den Torso der ePA definiert, der für alle Krankenkassen gleich ist. Dazu kommen sogenannte Mehrwertanwendungen, die kassenindividuell programmiert werden und aus der ePA das Gesamtbild schaffen. Dies ist eine große Chance für die Krankenkassen. Denn auch daran erkennen die Versicherten, welche Krankenkasse sich mit welchen Themen beschäftigt. Und die Möglichkeiten der individuellen Begleitung sind vielfältig. Ich glaube, dass es sehr gut ist, dass wir an dieser Stelle einen Wettbewerb haben. Beispielsweise könnte die Krankenkasse den eben erwähnten Impfpass sprechend machen, indem an Impftermine erinnert wird. Oder sie könnte verschiedene Sprachen anbieten.

Die ePA wird in drei Stufen eingeführt, von 2021 bis 2023. Was steckt dahinter?

Das hat vor allem damit zu tun, dass es das derzeit größte IT-Projekt Europas ist und wahrscheinlich das größte Puzzle, was wir je in der IT-Landschaft in Deutschland hatten. Beteiligt sind 105 Krankenkassen mit 105 ePA, die über drei verschiedene Konnektorsysteme mit über 320 Softwaresystemen in Kliniken und Praxen in einen gemeinsamen Dialog kommen müssen. Da muss man davon ausgehen, dass es an der einen oder anderen Stelle auf der Ebene der Interoperabilität noch hakt. Deshalb geben wir uns zu Recht Zeit.

Angefangen wurde zu Beginn des Jahres mit einer Testphase in ausgewählten Regionen. Wieso ist diese notwendig?

Bei einem IT-Projekt dieser Größenordnung ist eine solche Testphase für alle Beteiligten unverzichtbar und wesentlicher Bestandteil – für die Ärzte, die Krankenkassen, die Konnektorenanbieter und letztendlich auch für die Versicherten. Die Erfahrungen aus dieser Einführungsphase in der Praxis fließen ab dem zweiten Quartal in die weitere Ausgestaltung des bundesweiten Rollouts. Nach erfolgter Testphase und finaler Zulassung beginnt dann die nächste Stufe in Form der flächendeckenden Vernetzung der ePA. Patienten haben aber bereits jetzt, in der Einführungsphase, die Möglichkeit, die ePA als App in ihrer Funktionsweise grundsätzlich kennenzulernen.

Zum Start der ePA wurde viel über das sogenannte Authentifizierungsverfahren gesprochen, das erforderlich ist, wenn ein Versicherter die ePA bei den Krankenkassen herunterladen möchte. Aus rechtlichen Gründen bieten derzeit nicht alle Krankenkassen ein elektronisches Verfahren an.

Das stimmt, nicht zufrieden sind wir mit den aktuellen Möglichkeiten der Identifikation der Versicherten. Wir sehen, dass einige Krankenkassen zögerlich sind, was das elektronische Identifikationsverfahren betrifft, das wir als Video-Ident bezeichnen. Derzeit werden Versicherte teilweise in über 100 Kilometer entfernte Geschäftsstellen gebeten, in Corona-Zeiten keine gute Lösung. Auch wenn das persönliche Erscheinen natürlich immer die Königsdisziplin ist, kann es langfristig keine überzeugende Lösung sein. Deshalb brauchen wir dahingehend unbedingt zielführende Vereinbarungen zwischen den Krankenkassen, der gematik, dem Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, um auch für die Krankenkassen Rechtsklarheit zu erreichen.

Eine andere Baustelle ist das Thema Datenschutz. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sieht Probleme in Bezug auf das sogenannte Berechtigungsmanagement. Worum geht es genau?

Es geht um die Zugriffsmöglichkeiten auf die Dokumente in der ePA. Der Bundesdatenschutzbeauftragte kritisiert, dass zur Einführung der ePA noch keine dokumentengenaue Kontrolle seitens des Versicherten beziehungsweise noch kein feingranulares Berechtigungsmanagement besteht. Diese Möglichkeit ist erst ab 2022 vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist häufig vom Alles-oder-Nichts-Prinzip die Rede, aber das ist keine korrekte Darstellung. Schon jetzt verwaltet der Versicherte in seiner ePA drei Körbe, nämlich den Leistungserbringerkorb, den Krankenkassenkorb und seinen privaten Korb. Möchte man nicht alle Dokumente zugänglich machen, kann man einen der Körbe auch verschlossen gegenüber einzelnen Ärzten halten. Vertrauliche Dokumente können daher sehr wohl verborgen werden. Der Versicherte kann also bereits jetzt frei entscheiden, welchem Leistungserbringer er Zugriff gewährt. Er kann auch die Zugriffsdauer definieren. Zudem erhält er Protokolle darüber, welches Dokument sich ein Leistungserbringer aufgemacht hat. Der Versicherte ist Herr seiner Daten und kann die Zugriffsberechtigungen steuern. All das ist in der Grundausstattung der ePA enthalten. Daher bedaure ich, dass vom Datenschutzbeauftragten der Eindruck erweckt wird, wir würden ein Auto ohne Airbag verkaufen. Und noch einmal ganz wichtig: Grundsätzlich ist auch die ePA eine freiwillige Anwendung. Der Versicherte entscheidet, ob er sie nutzen möchte oder nicht.

In dieser Frage haben Sie Unterstützung vom Bundesamt für Soziale Sicherheit und von dem Bundesverfassungsgericht bekommen.

Ja, das health innovation hub, eine Ideenfabrik des Bundesgesundheitsministeriums, hat ein Rechtsgutachten erstellt, das klar besagt, dass die ePA voll im Einklang mit der Datenschutz-Grundverordnung steht. Zudem hat sich das Bundesamt für Soziale Sicherheit, die Aufsichtsbehörde der bundesunmittelbaren Krankenkassen, dieser Position angeschlossen und sich damit zustimmend zur ePA geäußert. Und schließlich wies kürzlich das Bundesverfassungsgericht zwei Klagen ab.

Wie sicher ist grundsätzlich die ePA?

Datenschutz ist ein lebendes Konzept. Datensicherheit besteht nur dann, wenn sich ein Konzept immer wieder neuen Begebenheiten anpasst. Die Spezifikation der ePA, die wir als gematik vorgegeben haben, erfüllt dies in höchster Form. So ist beispielsweise der Verschlüsselungsmechanismus sehr hoch. Die gematik hat in den letzten zwei Jahren extrem viele Sicherheitsmechanismen hochgefahren und besitzt ein sich ständig adaptierendes Sicherheitskonzept. Die Telematikinfrastruktur wurde als derzeit sicher bewertet. Aber keine IT kann eine volle Absolution haben. Insofern machen wir alle Anstrengungen dahingehend, um den Bürgern die Gewissheit zu geben, dass ihre Daten nach europäisch gefordertem Standard gehandhabt werden.

Datenschutz versus Versorgungsoptimierung – was wiegt mehr?

Zur Debatte gehören beide Seiten. Die Balance zwischen dem Schutz der Daten und dem Gewinn, den der einzelne Bürger und die Gemeinschaft dadurch bekommen, dass Daten besser verfügbar sind, muss regelmäßig ausgeleuchtet werden. Wir haben gute Medizin in Deutschland, aber sie könnte noch besser sein, wenn es gewisse Beschränkungen nicht gäbe. Die gematik und die Krankenkassen stehen zum vollen Datenschutz, aber sie denken eben auch, dass durchaus noch gesundheitliche Schätze gehoben werden können für das Individuum wie für die Gemeinschaft.

Wie schätzen Sie grundsätzlich die Akzeptanz der ePA in der Bevölkerung ein?

Ich glaube, die ePA wird sich peu à peu etablieren. In den ersten zwei Jahren wären wir schon glücklich, wenn wir einen höheren einstelligen Prozentsatz der Versicherten dazu bekommen werden. Ab dann wird es vermutlich relativ rasch zunehmen, denn die ePA braucht das Erlebnis des Nutzens. Die ePA zu füllen, ist das eine. Sie im Einsatz als nutzbringend zu erleben, ist das andere. Zur Akzeptanz tragen auch mehrere Partner bei. Die gematik steht dafür, dass der Versicherte darauf vertrauen darf, dass seine Daten niemals irgendwo hinfließen, wo er sie nicht hinfließen lassen will. Die Krankenkassen unterfüttern die ePA mit mehr Anbindung und Service. Und der Arzt spielt als Vertrauensperson eine bedeutende Rolle.

Wie stehen die Ärzte der ePA gegenüber?

Die Ärzte, ebenso Zahnärzte und Krankenhäuser, sind hoch motiviert. Ich sehe viele Fachverbände und Ärztevereinigungen sehr positiv und begeistert auf die ePA und auf die Digitalisierung zugehen, zum Beispiel Notfallmediziner und Dermatologen. Skepsis besteht meistens bei denjenigen, die noch nicht die ePA live erlebt haben. Daher sollten wir uns auch die nächsten zwei Jahre in Geduld üben und den Ärzten konkret zeigen, welchen Nutzen und Wert die ePA im klinischen Alltag hat. Gleichzeitig muss die gematik darüber nachdenken, wie digitalisierte Schritte die Verwaltungsabläufe in Kliniken und Praxis erleichtern können.

Wie verhalten sich Apotheker und andere Berufsgruppen wie Physiotherapeuten?

Die Apotheker sind vom Digitalisierungsgrad ohnehin schon reifer als viele andere Sektoren des Gesundheitswesens und haben eine bessere digitale Infrastruktur. Bei ihnen sehen wir breite Zustimmung. Bei den Physiotherapeuten und auch bei den Hebammen haben wir es derzeit mit Piloten zu tun. Denn bei ihnen gibt es teilweise mobile Dateneinsätze und da brauchen wir entsprechend mobile Szenarien. Wir müssen also eine Lösung finden, wie wir einen stationären Konnektor an einen mobilen Konnektor anbinden und somit den mobilen Einsatz für diese Berufsgruppen möglich machen können. Auf jeden Fall signalisieren die Physiotherapeuten großes Interesse. Für sie ist die Anbindung an die ePA freiwillig, im Gegensatz zu Apothekern, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern, die dazu verpflichtet sind.

Wo stehen wir insgesamt mit Blick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens?

Wir haben eine souveräne digitale Infrastruktur, aber sie stammt aus einer Zeit, als es beispielsweise noch keine Smartphones und Cloud-Dienste gab. Einige Technik ist schon 14 Jahre alt und muss unbedingt modernisiert werden. Wir benötigen daher einen technischen Sprung. Ende Januar hat die gematik ihr sogenanntes White Paper für die Telematik 2.0 bekannt gegeben. Darin haben wir sechs Paradigmenwechsel definiert, die verändert werden müssen, damit die nationale Telematikinfrastruktur auch attraktiv für die Zukunft wird. Hier benötigen wir nun Rückmeldung aus allen Bereichen des Gesundheitswesens, damit wir uns in den nächsten Monaten darüber einig werden, wie eine nationale Plattform für digitale Medizin aussehen soll. Denn ohne eine zentrale Vernetzung drohen uns viele digitale Inselangebote, die sich nicht in voller Blüte entfalten können. Wir brauchen eine Plattform, die für alle Beteiligten attraktiv ist und Deutschland digital weiter voranbringt.

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