Die Ergebnisse des Demenzreports 2020, insbesondere der häufige Einsatz von Psychopharmaka bei Menschen mit Demenz, muss aus Sicht des Arzneimittelexperten und Studienleiters, Prof. Dr. Gerd Glaeske, dringend überdacht werden. Das Motto „sauber, satt und ruhig“ darf auf keinen Fall Handlungsleitbild bei der Versorgung von Menschen mit Demenz sein. Die Studie wurde von der hkk Krankenkasse gefördert, auf deren Datenbasis das SOCIUM der Universität Bremen den Report erstellt hat.
Deutschland gehört zu den zehn Ländern mit dem höchsten Anteil an Demenzerkrankten weltweit. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft lebten in Deutschland im Jahr 2020 rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz – die meisten von ihnen mit einer Alzheimerdemenz. Wegen der steigenden Lebenserwartung wird diese Zahl weiter steigen: um 900 pro Tag, das heißt, um mehr als 300.000 im Jahr. Somit werden im Jahr 2050 voraussichtlich 2,4 bis 2,8 Millionen Menschen betroffen sein.
Demenziell Erkrankte adäquat zu versorgen, ist heute und in Zukunft nicht zuletzt wegen der angesprochenen hohen Erkrankungshäufigkeit und damit auch der gesundheitsökonomischen Bedeutung eine besondere Herausforderung. Die Versorgung von Demenzerkrankten ist zudem sehr komplex und fordert multimodale Behandlungsansätze. Demenzerkrankungen treten für gewöhnlich im höheren Lebensalter auf und werden oftmals von weiteren Krankheiten begleitet. Die Therapie der vaskulären Demenz (Durchblutungsstörungen im Gehirn) und der Alzheimerdemenz muss also fast immer im Kontext einer Multimorbidität erfolgen. Der demenzspezifische Abbau der kognitiven Fähigkeiten mit dem damit einhergehenden Verlust von Sprache und damit auch der Fähigkeit sich auszudrücken, macht deutlich, dass Demenz eine Erkrankung mit hoher Krankheitslast und mit einem großen Verlust an Lebensqualität einhergeht. Hinzu kommen die abnehmenden Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzunehmen, und körperliche Beeinträchtigungen.
Die Behandlung des demenziellen Syndroms setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen. Neben pharmakologischen Maßnahmen kommen auch psychosoziale Interventionen für die Erkrankten und ihre Angehörigen zum Einsatz. Das Ziel der pharmakologischen Therapie einer Alzheimerdemenz mit Antidementiva ist derzeit, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.
Fehlversorgung mit Neuroleptika
Im Rahmen der Analyse von hkk-Daten für den Demenzreport 2020 richtete sich das Interesse vor allem auf zwei Arzneimittelgruppen: einerseits auf Antidementiva, anderseits auf Wirkstoffe, von denen bekannt ist, dass sie für Menschen mit Demenz nutzlos sind und ihnen sogar schaden können, wie Neuroleptika, Arzneistoffe aus der Gruppe der Psychopharmaka.
Für Antidementiva ist ein gewisser Nutzen bei leichten bis mittelschweren Demenzen nachgewiesen. Eine Verlangsamung des Verlusts der kognitiven Leistungsfähigkeit und die positive Beeinflussung bei der Verrichtung von Alltagsaktivitäten konnten beobachtet werden. Keine ausreichend belastbaren Daten liegen hingegen vor, die belegen, dass die krankheitsbezogene Lebensqualität gesteigert und eine vollstationäre Pflege verhindert werden kann. Bei schwerer Demenz können memantinhaltige Mittel den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.
Für den Einsatz von Neuroleptika zur Behandlung von Demenzerkrankten mit Verhaltensstörungen wird dagegen generell keine Indikation gesehen. Die pharmazeutischen Unternehmen, die solche Mittel herstellen, wurden verpflichtet, sogenannte Rote-Hand-Briefe an Ärztinnen und Ärzte zu verschicken, in denen auf das Risiko der sogenannten Übersterblichkeit und des höheren Sterberisikos hingewiesen wird.
Verordnung von Neuroleptika
Das Ergebnis der Datenanalyse ist im Hinblick auf die Arzneimitteltherapie bei Menschen mit Demenz dramatisch: Rund 34 Prozent aller an Demenz Erkrankten erhielten im Jahr 2019 mindestens einmal Neuroleptika verordnet – Psychopharmaka, die üblicherweise zur Therapie von Schizophrenien und Psychosen Anwendung finden. Antidementiva erhielten hingegen nur 22,3 Prozent.
Und das, obwohl ein risikobehafteter Einsatz von Neuroleptika bei Demenzerkrankten seit Jahren bekannt ist. Eine Analyse von 17 placebokontrollierten, teils unveröffentlichten Studien ergab, dass sich beim Einsatz derart stark beruhigend wirkenden Neuroleptika bei Demenzpatientinnen und -patienten das Mortalitätsrisiko um den Faktor 1,6 bis 1,7 erhöht. Die Haupttodesursachen waren dabei akute Herzerkrankungen und überwiegend pulmonale Infekte. Inzwischen liegen zudem Hinweise vor, dass vermehrt ischämische Hirninfarkte auftreten können.
Ferner ist zu bedenken, dass der Einsatz von Neuroleptika, wie auch von bestimmten anderen Schlaf- und Beruhigungsmitteln, bei agitiertem und sogenanntem herausfordernden aggressiven Verhalten von Demenzpatientinnen und -patienten möglicherweise zu einem rascheren Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit beiträgt. Eine kurzfristige Anwendung ist nur dann vertretbar, wenn eine nicht beherrschbare Gefährdung der Betroffenen oder ihrer Umgebung besteht.
Dementsprechend ist die Verordnung von ruhigstellenden Mitteln bei älteren Menschen, insbesondere aber bei Menschen mit Demenz, keine akzeptable Strategie, um den Mangel an Pflege- oder Betreuungspersonal auszugleichen. Es muss vielmehr das Ziel sein, eine aktivierende Pflege anzubieten, welche die vorhandenen Kompetenzen älterer Menschen fördert, damit sie so lange wie möglich ihre Würde und die Alltagsfähigkeiten aufrechterhalten und Erinnerungen aus der früheren Lebenszeit bewahren können.
Prävention als Schlüssel
Hinweise aus der Präventionsforschung zeigen, dass mentale und körperliche Beschäftigungen sowie Anforderungen, beispielsweise Tanzen, sowie Lebensstilveränderungen, etwa entlastende Ernährung, dazu beitragen, den Beginn einer möglichen Alzheimerdemenz zu verzögern. Besonders wichtig ist dabei auch eine regelmäßige Kommunikation, ggf. mit Unterstützung eines Hörgeräts.
Ein Schlüssel zu wirksamer Prävention könnte auch die dauerhafte Senkung eines zu hohen Blutdrucks sein. Mehrere Studien legen nahe, dass Bluthochdruck in jüngeren Jahren ein wesentlicher Risikofaktor für eine spätere vaskuläre Demenz sein kann. Da Bluthochdruck auch die häufigste Ursache für einen Schlaganfall ist, schützt diese Form der Prävention das Gehirn in zweierlei Hinsicht.
Dies alles ist zwar keine Garantie dafür, dass eine Alzheimerdemenz vermieden werden kann. Die Berücksichtigung dieser Handlungsempfehlungen und Erkenntnisse können aber offenbar, wie in manchen Ländern zu beobachten ist, die Häufigkeit von Alzheimerdemenz im höheren Alter senken.
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