Interview mit Dr. Martin Herrmann, Vorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e. V. (KLUG)

„Beim Klimaschutz haben die Krankenkassen eine Schlüsselrolle“

Die Klimakrise stellt das deutsche Gesundheitswesen vor die Herausforderung, den eigenen CO2-Fußabdruck zu senken und die Gesundheit der Menschen besser zu schützen. Im Interview mit ersatzkasse magazin. betont Dr. Martin Herrmann, Mitgründer und Vorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e. V. (KLUG), die zentrale Rolle der Krankenkassen bei dieser Mammutaufgabe. Zudem spricht er sich dafür aus, Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch zu verankern.

Dr. Martin Herrmann, Vorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e. V. (KLUG)

Herr Dr. Herrmann, Sie sind Arzt und Transformationsberater. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit Klima- und Gesundheitsschutz intensiver zu beschäftigen?

Dr. Martin Herrmann: Ich befasse mich seit den 1990er Jahren intensiver mit diesem Thema und bin eng mit den Gründern des damaligen Fördervereins Ökologische Steuerreform (FÖS), unter anderem mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, verbunden gewesen. Im Jahr 2015 ist mir dann, nach der Lektüre des Buches „This Changes Everything" der kanadischen Journalistin Naomi Klein, klar geworden, dass wir drohen, gegen die Wand zu fahren, und dass ich das Thema zur Priorität in meinem Leben mache.

Sie haben KLUG mitbegründet. Wie hat es angefangen, wie viele Leute arbeiten heute dort?

Gegründet haben wir uns vor allem deshalb, weil die Berichte von einschlägigen Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation den Klimawandel als größte globale Bedrohung für die Gesundheit im 21. Jahrhundert ausmachten. Und es war klar, dass der deutsche Gesundheitssektor dies noch nicht realisiert hatte. Das wollten wir ändern. Wir, das war 2017 eine kleine Gruppe – fünf Studierende, fünf Menschen im Pensionsalter, fünf mittendrin im Berufsleben, zum Beispiel Sabine Gabrysch, die heute an der Charité und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung die Professur für Klimawandel und Gesundheit innehat, und Christian Witt, Professor für Pneumologie an der Charité. Sabine Gabrysch hat wesentlich daran mitgewirkt, die planetare Gesundheit als Dimension und Begriff in Deutschland bekannt zu machen. Von Beginn an hatten wir die Anbindung an die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Welche Ziele stehen bei Ihrer Arbeit im Vordergrund?

Im Zuge der Gründung hatten wir uns drei Ziele gesetzt: erstens darüber aufzuklären, dass die Klimakrise die größte Gesundheitsbedrohung ist, und zweitens zu erreichen, dass dieses Wissen konsequent im Gesundheitssektor berücksichtigt wird. Und drittens wollen wir, dass der Gesundheitssektor eine starke Rolle bei den notwendigen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen spielt. Das Interesse am Zusammenhang von Klimawandel und Gesundheit war im Gesundheitssektor wie bei Klimaakteuren gering. Davon haben wir uns aber nicht abhalten lassen: Einen Wendepunkt gab es im Jahr 2018, parallel zur Gründung der Klimabewegung Fridays for Future, als wir beschlossen, neben Vorträgen und Diskussionen eine Mahnwache zu organisieren: eine Woche lang vor der Berliner Charité, Tag und Nacht, mit einem Sanitätszelt als „Intensivstation“ und einer davor aufgestellten Trage für den „Patienten Erde“.

Inwiefern war diese Mahnwache ein Wendepunkt?

Auf die Mahnwache gab es wenig öffentliche Resonanz und niemand kam zu unserer Pressekonferenz. Aber letztlich hat sie doch viel bewirkt: In den Gesprächen mit Passantinnen und Passanten hat sich unsere Art, über unser Thema zu sprechen, deutlich verändert. Wenige Tage danach hat sich der Arzt und Fernsehmoderator Eckart von Hirschhausen bei mir gemeldet und wir setzten uns mit dem Physiker, Naturphilosophen und Wissenschaftsautor Harald Lesch zusammen. Der war begeistert von der Metapher von der Erde als Intensivpatient. Sie wurde zum tragenden Bild für die Klima- als Gesundheitskrise. Ende Oktober dieses Jahres haben zweihundert der wichtigsten Medizinzeitschriften, unter anderem auch der Lancet, in einem Leitartikel die Ausrufung des globalen Gesundheitsnotstands wegen der Klima- und Biodiversitätskrise durch die WHO gefordert. Das hat die Bedeutung dieses Bildes nochmal bestätigt.

Hitze, Überschwemmungen, starke Regenfälle – können Sie beschreiben, was die typischen auf die Gesundheit bezogenen Auswirkungen der Klimakrise sind?

Die Klimakrise wirkt in alle medizinischen Disziplinen hinein. Alle Menschen können von Hitze betroffen sein. Wir haben alle die Bilder von Städten, die eingehüllt waren in die Rauchschwaden der Waldbrände um sie herum. Vor allem durch die vermehrten Hitzeperioden leiden vor allem Menschen mit Vorerkrankungen, sensible Gruppen wie Kinder und Schwangere. Es kommt vermehrt zu Frühgeburten und bei vielen Erkrankungen verstärken sich die Symptome. Auch können durch hohe Temperaturen Herzinfarkte oder Schlaganfälle auslöst werden. Es kommt zu bis zu 10.000 hitzebedingten Todesfällen pro Jahr, allein in Deutschland.

Welche weltweiten Auswirkungen lassen sich beobachten?

Es gibt viele Gebiete, die kaum mehr bewohnbar sind. Pakistan ist so ein Land, wo die Hitze mit am stärksten ist. Und dann ist es die Verbindung von Hitze und Luftfeuchtigkeit, bei der ganz schnell ein Punkt eintritt, wo es lebensgefährlich sein kann, sich länger als fünf Minuten draußen aufzuhalten. Menschen, die von der Landwirtschaft leben, sind dann nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Das hat Auswirkungen auf die Nahrungsmittelsicherheit. Und die Möglichkeiten, Landwirtschaft zu betreiben, werden gerade für die ärmsten Menschen immer schwieriger. Insgesamt bedeutet dies mehr Hunger in der Welt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen schon lange vor den Folgen der Klimakrise. Aber angekommen im Bewusstsein der Menschen ist dies erst seit einiger Zeit.

Wir dachten, wir hätten Zeit. Was sich aber verändert hat, ist die Zunahme von Extremwetterereignissen, weltweit und bei uns. Die Szenarien, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgestellt haben, sind schneller als gedacht real geworden. Die Gefährdungen sind massiv sichtbar.

Und wie hat aus Ihrer Sicht das Gesundheitswesen reagiert?

Seit 2019 interessieren sich immer mehr Akteurinnen und Akteure für Klima- und Gesundheitsschutz. Der Pflegerat stellte damals das Thema prominent vor, die Ärztekammer beschäftigte sich damit und der Marburger Bund veröffentlichte eine eigene Stellungnahme. Fridays for Future hatte eine Aufmerksamkeitswelle erzeugt, aber auch unsere Aktivitäten waren nicht unbemerkt geblieben. Gemeinsam mit der Bundesärztekammer, dem Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, der Charité und den Helmholtz- Zentren stellten wir zum ersten Mal einen Lancet Countdown Bericht zu Klima und Gesundheit für Deutschland vor, mit dem es gelang, das Thema wissenschaftlich zu verankern und zu zeigen, dass die Evidenzen und daraus abgeleitete Handlungspfade eindeutig sind.

Schauen wir auf den Gesundheitssektor als Klimatreiber, der in Deutschland für etwa fünf bis sieben Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Treiber im Gesundheitswesen?

Jede Klinik, jedes Gebäude oder jede Institution hat Emissionen durch die Art, wie sie gebaut sind, welche Heizungen und Lüftungen sie haben. Hinzu kommen die Art der Mobilität, wie beispielsweise die Menschen von A nach B transportiert werden, und wie die Krankenhausernährung funktioniert. Es wird natürlich sehr viel Energie in den Gesundheitseinrichtungen und auf den Intensivstationen verbraucht. Wie können wir den Energieverbrauch deutlich reduzieren? Woher beziehen wir den Strom, von einem Kohlekraftwerk oder aus regenerativen Energien? Wir brauchen neue Hygienekonzepte, die mit weniger Wegwerfprodukten auskommen. In der Anästhesie müssen klimaschädliche Gase ersetzt werden. Alle unsere Routinen sind auf eine fossil betriebene Welt ausgerichtet.

Benötigen wir gesetzliche Regelungen, um beim Klimaschutz im Gesundheitswesen weiterzukommen? Sollte das Gebot von Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch (SGB) verankert werden?

Natürlich. Denn guter Wille allein reicht nicht. Strategische Effekte zum Beispiel beim Thema Hitze haben Gesetze auf Bundes- und Länderebene sowie auf der kommunalen Ebene. Und natürlich müssen Klimaschutz und Nachhaltigkeit im SGB verankert werden. Beim Klimaanpassungsgesetz sind für uns die Gesundheitsdimension und das Thema Hitze auch noch nicht genügend berücksichtigt.

Sehen Sie denn bezogen auf die Regierung ein Vorankommen? Die Interessenskonflikte führen zu unterschiedlichen Positionen.

Die Reaktionen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds (KTF) zeigen, dass nach wie vor die existenzielle Gesundheitsgefährdung durch die Klimakrise bei den meisten Akteurinnen und Akteuren in Politik und Gesellschaft nicht verstanden wird. Gleichzeitig wächst das Interesse an unserer Arbeit in den Bundes- und Landesministerien schnell. So arbeitet Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach seit Juni dieses Jahres intensiv an der Umsetzung eines nationalen Hitzeschutzplans und will sich auch für eine Roadmap zum klimaneutralen Gesundheitssektor einsetzen.

Vielleicht wird Gesundheit nicht als prioritäres Politikfeld wahrgenommen?

Dass Gesundheit ein zentrales Thema ist, lässt sich schon vermitteln. Das ist durch die Pandemie nochmal sehr deutlich geworden. Aber viele verstehen noch nicht, dass die Energiewende nicht nur ein Energieprojekt ist, sondern gleichzeitig das größte Gesundheitsprojekt unserer Zeit. Sie ist die kausale Therapie, sie „behandelt“ die Ursachen der größten Gesundheitsbedrohung unserer Zeit.

Bei den Maßnahmen für Klimaschutz sprechen Sie auch von den sogenannten Co-Benefits.

Klimaschutzmaßnahmen haben viele positive Nebeneffekte. Indem Städte so gebaut sind, dass man sich darin gut zu Fuß bewegen kann, hat das eben positive Auswirkungen auf uns selbst, weil wir uns mehr bewegen – und es ist gut für die Natur und das Klima. Das Gleiche gilt für eine flexitarische Ernährung orientiert an der „Planetary Health Diet“. Sie bringt enorme Vorteile für unsere Gesundheit und den Planeten.

Welche Verantwortung haben die Krankenkassen beim Klima- und Gesundheitsschutz?

Den Krankenkassen kommt eine Schlüsselrolle zu. In Deutschland sind wir in der glücklichen Lage, dass es eine gesetzliche Krankenversicherung gibt. Ich bin sicher, dass die Krankenkassen Klimaschutz und Nachhaltigkeit auf Vorstandsebene und in der Strategie zentral setzen können – dort, wo sie mit Versorgungsstrukturen arbeiten, wo sie direkt mit den Versicherten in Kontakt stehen, beim Thema Prävention. Wenn sie in ihr Portfolio von Handlungsfeldern das Thema Klima und Gesundheit hineinnehmen. Wir sind inzwischen im Gespräch mit vielen Krankenkassen, es ist eine große Offenheit für gemeinsame Projekte, etwa zum Thema Hitzeschutz, vorhanden.

Kommen wir auf die Eigenverantwortlichkeit der Menschen einerseits und die Nachhaltigkeitsgebote andererseits zu sprechen. Wie erreicht man die Menschen, die Klimaschutz als Bevormundung verstehen beziehungsweise aus der eigenen sozialen und wirtschaftlichen Situation heraus da nicht mitgehen wollen?

Mir ist die Gegenüberstellung von Eigenverantwortlichkeit versus Gebote etwas zu einfach. Bei Geboten und Gesetzen sollten wir uns auf das beschränken, was wirklich nötig ist. Aber darüber hinaus sollte sich jede größere Einrichtung mit Klima- und Hitzeschutz als Gesundheitsschutz auseinandersetzen. Es geht nicht ohne das Mitagieren von Institutionen, Netzwerken, einzelnen Akteurinnen und Akteuren. Gemeinsames Handeln ist überall gefragt, ob im Quartier, Bezirk, im Dorf, in der Stadt, im Sportverein, in den Kirchen. Dabei ist es auch wichtig, im Blick zu behalten, dass die klimabedingten Gesundheitsrisiken für sozial benachteiligte und ärmere Menschen deutlich höher sind. Es ist wichtig, sie in ihrer Lebenssphäre zu erreichen und zu beteiligen. Dabei können Gesundheitsberufe, besonders im ambulanten Bereich, eine besondere Rolle spielen. Durch die Menschen, unterstützt durch Grundregeln, bringen wir gemeinsames Handeln und Eigenverantwortlichkeit zusammen.

Wie schnell wird die Transformation hin zu einer klimaresilienten Gesellschaft gelingen?

Die Bereitschaft ist da, wenn Vertrauen aufgebaut wird, bekommen wir vielleicht in kurzer Zeit Dinge hin, die normalerweise länger benötigen würden. Aber es wird immer wieder zu Zuspitzungen der Lage kommen. Deshalb wird der Handlungsdruck über lange Zeit bestehen bleiben.

Wie steht Deutschland in Sachen Klimaschutz und Gesundheit im europäischen Vergleich da?

Das Thema spielt in allen europäischen Ländern eine immer größere Rolle, Wetterextreme machen nicht an den Grenzen halt. Was hier in Deutschland über KLUG, Health for Future und Wissenschafts- und Akteursnetzwerke entsteht, ist europaweit einzigartig und wird auch global wahrgenommen. Die Art, wie es uns immer wieder gelingt, diese Themen strategisch zu platzieren, wie etwa bei der Bundespressekonferenz mit Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach und Prof. Dr. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, im vergangenen Jahr, gehören dazu. Es reicht eben nicht, wissenschaftliche Evidenz gut zu kommunizieren und zu denken, der Rest kommt von allein. Wir müssen auch ins Handeln kommen.

Wie geht es weiter? Denken Sie, dass wir die im Klimaschutzgesetz verankerte Klimaneutralität bis 2045 erreichen werden?

Ich bin kein Hellseher und weiß nicht, wo wir 2045 stehen werden. Die Evidenzen sprechen aber für sich. Gleichzeitig, das sehen wir auch anhand der aktuellen Kriege, müssen wir uns auf zwei Jahrzehnte einstellen, die sehr schwierig werden. Aber vielleicht können wir in 20 Jahren auch kopfschüttelnd zurückblicken, warum wir damals so langsam und mutlos waren.

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