Interview mit Niels Reith, Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG)

„Wir stehen für einen konstruktiven Austausch auf Augenhöhe“

Soziale Sicherung ist integraler Bestandteil der Politik in Deutschland. Das Sozialstaatsprinzip ist im Artikel 28 des Grundgesetzes verankert. Die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG) vereint Akteurinnen und Akteure aus den sozialen Sicherungssystemen. Im Interview betont Niels Reith, Geschäftsführer der GVG, die Bedeutung eines solchen Netzwerks, den Stellenwert sozialer Sicherung, die hohe Relevanz von Gesundheitsthemen sowie die Notwendigkeit, sich gemeinsam den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

Niels Reith, Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG)

Herr Reith, was zeichnet die GVG aus?

Nils Reith: Die GVG steht für ein vielfältiges, pluralistisches System der sozialen Sicherung und das schon seit 1947, damit ist sie eine sehr traditionsreiche und beständige Organisation. Hier kommt eine Vielfalt an Mitgliedern aus den sozialen Sicherungssystemen zusammen, die in ihren jeweiligen Bereichen soziale Sicherung gewährleisten und sich auf Spitzenebene über das Morgen und Übermorgen austauschen und themenabhängig gemeinsame Konsenspositionen entwickeln. Das macht die GVG einzigartig. Uns geht es auch darum, Impulse für die großen Zukunftsthemen zu diskutieren. Wir verfolgen nicht den Anspruch, zu allen Fragen Lösungen und Antworten zu haben. Vielmehr verstehen wir uns als Plattform für einen Austausch, um unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten und wichtige Herausforderungen ins Bewusstsein zu bringen. Es geht darum, Diskursräume zu schaffen und sich den Herausforderungen gemeinsam zu stellen. Niemand trägt eine alleinige Verantwortung, wenn es um soziale Sicherung geht.

Wie sieht der Austausch konkret aus?

Wir bieten verschiedene Formate. Da wären die klassischen Gremien wie Mitgliederversammlung, Präsidium, Vorstand und die Ausschüsse, die thematisch von Gesundheit und Pflege über Alterssicherung bis hin zu Arbeitsmarkt und Europa reichen. Daneben haben wir weitere Formate etabliert, beispielsweise die Aktuelle Stunde, die einen kurzfristigen Austausch zu tagesaktuellen Ereignissen ermöglicht. Zum Beispiel diskutieren wir dort aktuell mit Mitgliedern des Haushaltausschusses zu den haushaltspolitischen Herausforderungen. Weitere Beispiele sind der digitale GVG-Impuls sowie unsere Foren, wo wir mit hochrangigen Expertinnen und Experten etwa aus Politik, Verbänden, Unternehmen und Wissenschaft Zukunftsthemen diskutieren. Damit wollen wir übergreifenden fachlichen Austausch ermöglichen und Themen sektorenübergreifend erörtern.

An wen richtet sich die GVG?

Sie richtet sich sowohl nach innen als auch nach außen. Auf der einen Seite sind natürlich unsere Mitglieder eine sehr wichtige Zielgruppe, die sich freiwillig in der GVG organisiert. Sie bildet nahezu das gesamte Spektrum der vielfältigen sozialen Sicherheit ab. Zu unseren Mitgliedern gehören beispielsweise die Sozialversicherungsträger aus den Bereichen gesetzliche Krankenversicherung, gesetzliche Renten- und Unfallversicherung sowie Arbeitslosenversicherung, aber auch die Private Krankenversicherung und einzelne Versicherungsunternehmen sind Teil der GVG. Hinzu kommen berufsständische Versorgungswerke und Träger der berufsständischen Selbstverwaltung wie zum Beispiel Ärztekammern. Auch die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, sowie einzelne Leistungserbringer und Personen aus der Wissenschaft bringen sich in die GVG-Arbeit ein. Als GVG versuchen wir Dinge anzubieten, die ihnen Mehrwerte bieten, und vernetzen unsere Mitglieder übergreifend. Auf der anderen Seite sind Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit unsere Adressaten. Denn Ergebnisse, die in der GVG erarbeitet werden, wollen wir natürlich auch an die Politik heranspielen, sofern es möglich war, Konsenspositionen herzustellen. In der jüngeren Vergangenheit ist dies zum Beispiel bei der digitalen Rentenübersicht gelungen, die im letzten Jahr online gegangen und im Wesentlichen entstanden ist durch die Mitwirkung der GVG. Vertreterinnen und Vertreter aller drei Säulen der Altersvorsorge haben Vorschläge entwickelt und an die Politik herangetragen, die im späteren Gesetz berücksichtigt wurden. Das hat zwar etwas gedauert, aber GVG bedeutet auch, dicke Bretter zu bohren.

Stichwort Konsens: Bei der Vielzahl Ihrer Mitglieder, die zudem teilweise im Wettbewerb zueinanderstehen, sind abweichende Interessen unvermeidlich. Wie geht die GVG damit um?

Wir fokussieren uns auf übergeordnete Themen, bei denen unterschiedliche Interessen einzelner Mitglieder weniger zum Tragen kommen. Bei tagespolitischen Fragestellungen setzen wir auf Formate, die Austausch ermöglichen und nicht die Konsensfindung zum Ziel haben. Wir verstehen uns als Ort der fachlichen Debatte, in dem alle auf Augenhöhe zusammenkommen können. In der heutigen Zeit sind solche Orte aus meiner Sicht wichtiger denn je.

Sie haben von Zukunftsthemen gesprochen. Welche sind das aus Sicht der GVG?

In der Regel sind es in die Zukunft gerichtete Themen aus dem Bereich der sozialen Sicherung, die für alle unsere Mitglieder in irgendeiner Form relevant sind. Was sie beispielsweise derzeit umtreibt, ist der demografische Wandel. Das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsleben führt zu vielfältigen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Die Deckung des Fachkräftebedarfs oder der Wandel der Arbeit an sich sind nur einige Beispiele für Themen, die neue Antworten erfordern. Letztlich sind unsere sozialen Sicherungssysteme ganz wesentlich auf Erwerbsarbeit aufgebaut. Ein weiteres wichtiges Thema ist Künstliche Intelligenz mit ihren Auswirkungen auf so viele Bereiche. Damit verbunden ist ein Kernthema der GVG, nämlich die Digitalisierung. Zur Digitalisierung haben wir im vergangenen Jahr ein Forum ins Leben gerufen, um Know-how unter anderem zu Sicherheitsaspekten zu transferieren und Wege zu diskutieren, wie die Digitalisierung hierzulande im Bereich der sozialen Sicherung beschleunigt werden kann. Daraus erwuchs die Idee, eine Roadmap zu entwickeln, die relevante Aspekte der Digitalisierung in den vielfältigen Bereichen der sozialen Sicherung erhält sowie Forderungen und Vorschläge an die Politik, wie es gelingen kann, mehr Tempo auf die Straße zu bringen.

Wo stehen wir in Sachen Digitalisierung mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme und speziell im Gesundheitswesen?

Die Sach- und Entwicklungsstände der einzelnen Organisationen sind je nach ihrer Größe ganz unterschiedlich. Einige Krankenkassen sind schon sehr weit, andere Mitglieder sind motiviert, aber aufgrund ihrer Rahmenbedingungen noch eingeschränkt. Doch insgesamt sind wir seit einiger Zeit auf einem guten Weg und diesen sollten wir auch unbedingt konsequent weitergehen. Die GVG steht auch ganz deutlich für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. So wurden das E-Rezept, die elektronische Patientenakte und die Vorläufer der gematik schon früh in der GVG besprochen und vorgedacht.

Welche Relevanz haben Gesundheitsthemen in der GVG und im Gesamtkontext sozialer Sicherheit?

Eine sehr hohe Relevanz. Im Ausschuss Gesundheit und Pflege sprechen wir regelmäßig über unterschiedliche Gesundheitsthemen. Zuletzt hatten wir zum Beispiel spannende Austausche mit Akteurinnen und Akteuren aus Kanada und Israel zu Digitalisierungsfragen. Gesundheitsthemen spielen aber auch deswegen GVG-übergreifend eine große Rolle, weil Aspekte der Gesundheit oft andere Bereiche tangieren. Wir haben zuletzt beispielsweise das Pflegestärkungsgesetz aufgegriffen zu der Fragestellung, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden kann, wonach der Gesetzgeber beim Pflegebeitrag nach der Anzahl der Kinder unterscheiden muss. Viele Beteiligte präferieren eine digitale Lösung, jedoch ist diese gar nicht so einfach zu etablieren, vor allem aufgrund der verschiedenen Daten, die zusammenlaufen und teilweise geschützt sind. Des Weiteren bieten wir in diesen Wochen eine Aktuelle Stunde an zu den Auswirkungen der Haushaltssituation auf die sozialen Sicherungssysteme, was natürlich auch stark den Gesundheitssektor betrifft.

Die GVG koordiniert auch die nationalen Gesundheitsziele. Was steckt dahinter?

Die nationalen Gesundheitsziele verfolgen den Health-in- All-Policies-Ansatz, also Gesundheit in allen Politikfeldern zu berücksichtigen. In Deutschland wurde das Potenzial erkannt, dass sich Gesundheitsziele breit entfalten können, wenn die Beteiligten gemeinsam und übergreifend wirken. Bis heute wurden zehn nationale Gesundheitsziele erarbeitet. Acht von ihnen finden sich im Präventionsgesetz von 2016 wieder, die zwei übrigen wurden in den Jahren danach veröffentlicht. Allerdings benötigt die weitere Bearbeitung dieser Ziele auch eine auskömmliche Finanzierung, die momentan leider nicht gewährleistet ist. Derzeit werden Vorschläge erarbeitet, wie es mit den Gesundheitszielen weitergehen kann. Ich persönlich denke, dass Gesundheitsziele angesichts der unterschiedlichen gesundheitspolitischen Herausforderungen eine hohe Bedeutung haben. Auch die Ersatzkassen setzen auf Gesundheitsziele als einen wichtigen Baustein in der vielfältigen Gesundheitslandschaft.

Das jüngste im Jahr 2022 definierte nationale Gesundheitsziel ist Patientensicherheit.

Das ist ein ganz wichtiges Ziel, denn Patientensicherheit ist von großer Bedeutung. Letztendlich ist jeder Mensch irgendwann im Laufe des Lebens Patientin oder Patient, es ist also in unser aller Interesse, Patientensicherheit weiter in den Fokus zu rücken und zu verbessern. Wir alle müssen daran arbeiten, dass das Wohl der Patientinnen und Patienten in unserem Gesundheitssystem noch stärker Berücksichtigung findet. Ich finde auch gut, dass die Krankenkassen sich für mehr Patientensicherheit engagieren und ich begrüße daher auch Projekte wie das der Ersatzkassen, die derzeit ein Fehlermeldesystem – ein Critical Incident Reporting System (CIRS) – auf den Weg bringen. Ich möchte hier aber auch das ebenso wichtige Ziel „Gesundheit rund um die Geburt“ nicht unerwähnt lassen. Der Verbund hat sich hier mit einer eigenen Stellungnahme zum geplanten Aktionsplan der Bundesregierung beteiligt. Zusammen mit Stellungnahmen weiterer Verbände haben wir sie übrigens als Service auf unserer Website verfügbar gemacht.

Soziale Sicherung ist Dreh- und Angelpunkt aller Tätigkeiten des GVG. Welche Bedeutung messen Sie dem Sozialstaat bei?

Der Sozialstaat ist eine der ganz großen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Die ständige Weiterentwicklung des Sozialstaats ist eine der wesentlichen Aufgaben, der wir uns stellen müssen. Der Sozialstaat wird nie perfekt sein und ist immer in Bewegung, er sieht sich stets mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Ich glaube, dass wir permanent daran arbeiten müssen, erstens diesen Sozialstaat zu verteidigen und zweitens ihn an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Hier müssen wir zu einem stärkeren Dialog mit den jüngeren Generationen kommen. Am Ende ist der Sozialstaat der Kitt der Gesellschaft. Ohne Sozialstaat gibt es keine Demokratie und umgekehrt, sie bedingen sich gegenseitig. Beides gilt es zu verteidigen und das mehr denn je angesichts des aktuellen Weltgeschehens.

Welche Rolle spielt die soziale Selbstverwaltung mit Blick auf den Sozialstaat?

Das Selbstverwaltungsprinzip und seine verschiedenen Formen wie zum Beispiel die soziale oder auch die berufsständische Selbstverwaltung sind ganz wichtige Kernmerkmale unseres Sozialstaates und unserer Sozialsysteme. Sie haben über viele Jahre ganz wesentlich zum sozialen Frieden beigetragen und sich krisenfest gezeigt. Die staatsferne selbstverantwortliche Gestaltung und Verwaltung eigener Angelegenheiten und die stetige Weiterentwicklung dieses Prinzips sind für die GVG daher schon immer zentrale Themenfelder gewesen. Die Gestaltungs- und Handlungsspielräume von Selbstverwaltung sind im Laufe der Jahre allerdings zunehmend eingeschränkt worden. Wir wollen in der GVG deswegen wieder verstärkt darüber reden und Vorschläge entwickeln, wie wir dieses Kernprinzip und die damit verbundenen Partizipationsmöglichkeiten erfolgreich in die Zukunft überführen können. Wie können wir zum Beispiel jüngere Menschen für die Mitwirkung begeistern oder wie kann Selbstverwaltung noch vielfältiger und erlebbarer werden? Darüber wollen wir gemeinsam mit allen Beteiligten reden. Denn auf die Selbstverwaltung können und dürfen wir nicht verzichten.

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