Interview mit Peter Weiß, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen

„Spielräume der Selbstverwaltungen achten“

Im vergangenen Jahr haben die Sozialwahlen stattgefunden, rund 52 Millionen Menschen in Deutschland waren wahlberechtigt. Sie sind damit nach der Bundestags- und der Europawahl hierzulande die drittgrößte demokratische Abstimmung. Peter Weiß, der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, übergab Hubertus Heil, dem Bundesminister für Arbeit und Soziales, Ende September dieses Jahres seinen Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2023. Im Interview erläutert er, welche Schlüsse daraus für die Zukunft gezogen werden können.

Peter Weiß, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen

Die Selbstverwaltung ist ein wichtiges demokratisches Prinzip und die Sozialwahlen sind seit 70 Jahren ein fester Bestandteil der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Wie lassen sich diese tragenden Elemente der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung noch stärker in der Gesellschaft und im Bewusstsein der Menschen verankern?

Peter Weiß: Dies ist die entscheidende Frage – und die Antwort fällt nicht leicht. Im Zentrum der Sozialen Selbstverwaltung stehen die Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter. Sie sind ein unverzichtbarer Teil unseres Systems der Sozialversicherungsträger. Über die Jahrzehnte hinweg haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere klassischen Medien das Thema „Soziale Selbstverwaltung“ kaum aufgreifen. Und viele Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen nicht, um was es eigentlich geht. Deshalb will ich als Erstes die Themen Sozialversicherung und Sozialwahlen stärker in der schulischen und außerschulischen Bildung verankern. Darauf müssen dann die Sozialversicherungsträger, die Listenträger und die Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter aufbauen. Sie sollten jede Gelegenheit nutzen, um auch öffentlich die Arbeit der Sozialen Selbstverwaltung darzustellen.

Auch die Politik sollte das Selbstverwaltungsprinzip als wesentliches Element unseres Sozialstaates achten. Wie hat sich die Gesetzgebung der letzten Jahre auf den Handlungsspielraum der Selbstverwaltung ausgewirkt?

In der Tendenz der letzten Jahre hat die Politik die Spielräume der Selbstverwaltungen eher eingeschränkt. Dies geschah zum Teil aus der Überzeugung, der Gesetzgeber müsse dies oder jenes zentral und schnell regeln. In der Politik begibt sich jedoch praktisch niemand auf den Kriegspfad, die Soziale Selbstverwaltung abschaffen zu wollen. Aber die Spielräume der Sozialen Selbstverwaltung werden immer wieder das Opfer des politischen Alltags. Deshalb möchte ich, dass mein Amt zum Beauftragten für die Soziale Selbstverwaltung aufgewertet wird. Damit gäbe es einen institutionellen Fürsprecher für die Selbstverwaltungen. Dann sollte in unserer Verfassung, im Grundgesetz, das Prinzip der Sozialen Selbstverwaltung verankert werden. Wenn im Gesetzgebungsverfahren eine Institution regelmäßig die Achtung der Spielräume der Selbstverwaltungen fordert, dürfte dies langfristig zum Erfolg in der Politik führen.

Wie sollten die Arbeitsaufteilung und Verantwortlichkeiten der Selbstverwaltung auf der einen Seite und des Staates auf der anderen Seite aussehen?

Das, was die Selbstverwaltungen sinnvoll selbstständig regeln können, sollten sie auch regeln dürfen. Wie das im Detail aussehen sollte, darüber gibt es zwischen den unterschiedlichen Akteuren sicher verschiedene Meinungen. Ich glaube nicht, dass es viel bringt, sich mit einem weißen Blatt Papier hinzusetzen und die Kompetenzen zwischen Selbstverwaltung und Politik neu zu verteilen. Es erscheint mir klüger, bei dem aktuellen Stand Kompetenzverteilung anzusetzen und vom Gesetzgeber einige Korrekturen zu verlangen. So wäre es doch vernünftig, wenn die Verwendung der Überschüsse aus Beitragsleistungen und Rücklagen ausschließlich durch das Haushaltsrecht der Selbstverwaltungsorgane geregelt würde. Oder wenn das Thema Reha einschließlich Budget ganz in der Verantwortung der Selbstverwaltung läge.

Junge Menschen sind die Wählerinnen und Wähler der Zukunft. Auf welche Weise können diese besser erreicht werden?

Wir hoffen darauf, dass ein Bildungssystem, das verstärkt über die Akteure der Sozialen Sicherheit informiert, zum „Gamechanger“ wird. Werden junge Menschen im „analogen Bereich“ auf die Wichtigkeit der Selbstverwaltungen hingewiesen, sind sie eher bereit, die digitalen Angebote der Sozialversicherungsträger, die über ihre Selbstverwaltungen informieren, anzunehmen. Stehen die Türen der jungen Menschen offen, müssen die Akteure der Selbstverwaltungen allerdings auch durchgehen. Dabei sollten sie die gesamte Klaviatur der neuen Medien nutzen. Und dann kann auch die Online-Wahl zusätzliches Interesse wecken.

Im vergangenen Jahr wurden die Sozialwahlen erstmals in einem Modellversuch neben den Briefwahlen auch als Online-Wahlen durchgeführt. Welche Erfahrungen ziehen Sie daraus, inwiefern können und sollten Online-Wahlen verstetigt werden?

Die Durchführung des Modellprojektes Online-Wahlen im Rahmen der Sozialwahlen 2023 war ein großer Erfolg. Dieser Erfolg, den wir fünf Ersatzkassen zu verdanken haben, gibt unserer Gesellschaft die Möglichkeit, über Online-Abstimmungen in den verschiedensten Bereichen nachzudenken. So arbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zurzeit an der Einführung von Online-Wahlen bei den Betriebsratswahlen. Viele andere Institutionen beschäftigen sich ebenfalls mit diesem Thema. Nach dem Abschluss des erfolgreichen Modell-Projektes möchte ich als Erstes erreichen, dass bei künftigen Sozialwahlen alle Sozialversicherungsträger stets die Möglichkeit erhalten, Online-Wahlen regelhaft anzubieten.

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