Hintergrund

Seelische Gesundheit in den ersten Lebensjahren

Prof. Dr. Jörg Maywald
Prof. Dr. Jörg Maywald, Geschäftsführer Deutsche Liga für das Kind, Honorarprofessor Fachhochschule Potsdam

In den letzten Jahrzehnten ist es zu einem deutlichen Wandel im Krankheitsspektrum gekommen. Dieses als „neue Morbidität“ bezeichnete Phänomen hat bereits im Kindesalter zu einer Verschiebung von den somatischen hin zu den psychischen Störungen geführt. Um gegenzusteuern ist es besonders wichtig, Eltern zu informieren, wie sie zu einer gesunden seelischen Entwicklung ihrer Kinder beitragen können.

Auffälligkeiten zeigen sich in den ersten Lebensjahren in einer Zunahme frühkindlicher Regulationsstörungen, etwa Schrei-, Schlaf- und Fütterungsstörungen, sowie späteren Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens. Die Ergebnisse aus einer Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten (BELLA-Studie) im Kinder- und Jugendgesundheits survey (KiGSS) machen deutlich, dass insgesamt 21,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland Hinweise auf psychische Auffälligkeiten zeigen. An der Spitze spezifischer seelischer Auffälligkeiten im Kindesalter stehen Ängste bei 10,0 Prozent, Störungen des Sozialverhaltens bei 7,6 Prozent und Depressionen bei 5,4 Prozent.

Kinder sind von Natur aus soziale Wesen. Sie kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Bindung und sozialem Kontakt zur Welt. Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit lässt sich als gelungene Integration von emotionaler Verbundenheit zu vertrauten Personen und sicherer Erkundung ihrer Umgebung beschreiben. Eine positive sozial-emotionale Entwicklung hängt davon ab, ob Sicherheits- oder Bindungsbedürfnisse und Erkundungs- oder Autonomiebestrebungen gleichermaßen befriedigt werden.

In sicheren und vertrauten Situationen wollen Kinder Neues erkunden und reagieren auf ihre Umwelt vor allem mit Interesse und Neugier. Dieses Interesse wird von dem schon für Neugeborene befriedigenden Gefühl aufrechterhalten, Verhalten oder Ereignisse verursachen und kontrollieren zu können und dadurch selbst wirksam und erfolgreich zu sein. Demgegenüber suchen die Kinder in Situationen von Verunsicherung oder Angst, wie zum Beispiel in einer fremden Umgebung, die Nähe zu einer vertrauten Person, die ihnen als sichere Basis dient.

Risiko- und Schutzfaktoren

Seelische Gesundheitsgefahren in der frühen Kindheit ergeben sich aus einem dynamischen Zusammenspiel von Risikofaktoren auf der einen und Schutzfaktoren auf der anderen Seite. Risikofaktoren können gegeben sein durch Eigenarten des Kindes, etwa Behinderungen oder ein schwieriges Temperament, durch das Klima in der Familie, beispielsweise ein hohes Konfliktpotenzial oder mangelnde Unterstützung, und durch außerfamiliale Einflüsse wie Armut, Arbeitslosigkeit oder soziale Isolierung. Vor allem das gemeinsame Auftreten mehrerer Risikofaktoren beeinträchtigt die psychische Gesundheit. Entsprechende Schutzfaktoren beim Kind, in der Familie und im sozialen Kontext fördern die Resilienz des Kindes gegenüber auftretenden Belastungen.

Der wichtigste Schutz für ein Kind sind feinfühlige Eltern, die auf die Bedürfnisse ihres Kindes achten und passend darauf eingehen. Das Interesse an Fragen der Erziehung ist bei den meisten Eltern in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Eltern klicken sich durchs Netz, lesen Ratgeber und schauen sich Erziehungssendungen an. Mit dem Interesse nahm aber auch die Verunsicherung zu. Nur wenige Mütter und Väter haben die Möglichkeit, vor Beginn ihrer biografisch immer weiter nach hinten rückenden Elternschaft den Umgang mit Kindern zu erleben und praktisch zu erproben, weil sie bis zur Geburt ihres Nachwuchses meist wenig Kontakt zu Kindern haben. Obwohl Eltern intuitive elterliche Fähigkeiten mitbringen und im Zusammensein mit ihrem Kind vieles lernen, wächst bei Eltern der Bedarf an Orientierung und Unterstützung.

Ein gewichtiger Teil der seelischen Störungen kann präventiv verhindert werden. Unterschieden werden muss hierbei zwischen Verhältnisprävention und Verhaltensprävention. Während Verhältnisprävention auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien gerichtet ist, zum Beispiel durch die Verringerung von Armut oder eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, will Verhaltensprävention das Verhalten der Beteiligten positiv verändern. Angebote primärer Verhaltensprävention richten sich an alle Eltern mit jungen Kindern. Sekundäre Prävention hat die besonders belasteten Familien im Blick. Tertiäre Prävention zielt darauf ab, die Folgen bereits eingetretener Störungen zu mildern und deren Verstetigung zu verhindern.

Als wichtige Angebote für Eltern mit jungen Kindern wurden in den letzten Jahren in Deutschland flächendeckend Frühe Hilfen aufgebaut. Frühe Hilfen bilden lokale und regionale Unterstützungssysteme mit Hilfeangeboten für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren. Neben alltagspraktischer Unterstützung leisten Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern. Sie umfassen vielfältige allgemeine als auch spezifische, aufeinander bezogene und einander ergänzende Angebote und Maßnahmen.

Grafik: Auftretenshäufigkeit spezifischer psychischer Auffälligkeiten

Eltern sensibilisieren

Ein wichtiger präventiver Baustein in der frühen Kindheit besteht darin, die Eltern zu stärken, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. Auf diese Weise kann das Familienklima positiv beeinflusst werden – eine wichtige Ressource zur Vorbeugung seelischer Störungen. Die im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts entstandenen Merkblätter und Filme „Seelisch gesund aufwachsen“ leisten hierfür einen wichtigen Beitrag.

https://seelisch-gesund-aufwachsen.de
https://www.fruehehilfen.de

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