Am 26. Mai 2019 finden in Deutschland die Wahlen für das Europäische Parlament statt. Die Abgeordneten Dr. Peter Liese (CDU) und Tiemo Wölken (SPD) stellen sich zur Wiederwahl. Im Interview erläutern die Parlamentarier ihre Positionen zu dringlichen Themen der europäischen Gesundheitspolitik, etwa der Qualitätssicherung von Medizinprodukten, explodierenden Kosten im Arzneimittelbereich und der länderübergreifenden Digitalisierung.
Beim Blick auf die Wahlprogramme von SPD und CDU/CSU fällt auf, dass darin kaum etwas zu gesundheitspolitischen Themen steht. Woran liegt das? Spielen Gesundheitsthemen bei Europawahlen keine Rolle?
Peter Liese Das Europawahlprogramm von CDU/CSU ist bewusst kurz gehalten, es finden sich aber auch gesundheitspolitische Fragen, wie die Bekämpfung von Krebs, welches ein sehr wichtiges persönliches Anliegen unseres Spitzenkandidaten Manfred Weber ist. Er wird auch persönlich vor der Wahl noch klare Position beziehen.
Tiemo Wölken Wenn wir an die EU denken, denken wir in der Tat selten an Gesundheitspolitik. Viele glauben, in diesem wichtigen Bereich seien alleine die Mitgliedstaaten zuständig. Das ist jedoch ein Trugschluss. Von der Qualität von Medizinprodukten und der digitalen Gesundheit über die Bekämpfung von Antibiotikaresistenz bis zur Möglichkeit, sich grenzüberschreitend im EU-Ausland behandeln zu lassen, das alles ist europäische Gesundheitspolitik und spielt in der Tat eine sehr große Rolle. Auf europäischer Ebene müssen wir jedoch immer die richtige Balance finden, sodass einerseits die Subsidiarität gewahrt bleibt, die Bürger andererseits aber den größten Nutzen aus unserer Gesundheitspolitik ziehen können.
Da haben Sie die Themen mit besonderer europäischer Relevanz bereits angesprochen. Schauen wir uns die Sicherheit von Medizinprodukten genauer an. Der EU wird vorgeworfen, in diesem Bereich zu wenig für die Patientensicherheit zu tun. Die Ersatzkassen fordern eine einheitliche europäische Zulassungsstelle für alle Hochrisikomedizinprodukte. Warum weigert sich die EU?
Peter Liese Wir haben in langen Diskussionen die Frage immer wieder abgewogen und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es wichtig ist, dass System zum In-den-Verkehr-Bringen von Medizinprodukten zu verschärfen. Die Skandale der Vergangenheit, beispielsweise bei Hüft- oder Brustimplantaten, gebieten dies eindeutig. Ein völliger Systemwechsel hin zu einer zentralen Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) würde die Sache aber noch komplizierter machen. Auch bei Arzneimitteln gab es Skandale, deswegen bietet eine zentrale Zulassung durch eine europäische Behörde keinesfalls hundertprozentige Sicherheit. Die Verschärfung der Gesetzgebung muss jetzt umgesetzt werden. Sie sieht unangemeldete Kontrollen vor Ort vor, stärkere Überwachung der genannten Stellen und vieles mehr.
Tiemo Wölken Es waren Konservative und Liberale im Europaparlament, die auf Druck der Hersteller-Lobby unsere Forderung nach einer zentralen Zulassung für Hochrisikoprodukte durch die EMA verhindert haben. Die sozialdemokratische Fraktion kämpft schon seit 2012 für schärfere Vorschriften in Bezug auf Medizinprodukte und In-Vitro-Diagnostika. Gegen die Konservativen und Liberalen im Ausschuss konnten wir 2013 immerhin unser wichtigstes Ziel durchsetzen, die Patienten besser vor fehlerhaften Produkten und deren Zulassung zu schützen. Europas Bürger müssen sich nicht nur darauf verlassen können, dass sie medizinisch einwandfrei behandelt werden, sondern auch darauf, dass wir in der EU die höchsten Standards bei Medizinprodukten und Arzneimitteln wahren.
Damit sind wir bei der Arzneimittelzulassung. Die Kosten explodieren – gerade im Bereich der sogenannten Orphan Drugs. Arzneimittelexperten sehen die Ursachen dafür auch in der Zunahme an beschleunigten Zulassungsverfahren durch die EMA. Was wollen Sie dagegen tun?
Peter Liese Grundsätzlich ist die beschleunigte Zulassung von Orphan Drugs sinnvoll. Nur so können wir Patienten mit seltenen Erkrankungen überhaupt helfen. Falls es dabei zu unberechtigten Mitnahmeeffekten kommt, muss man nachjustieren.
Tiemo Wölken Eine der obersten Prioritäten der EU im Gesundheitsbereich muss es sein, allen Patienten einen gleichermaßen gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebensrettenden Arzneimitteln zu ermöglichen. Für das Wohlergehen ganzer Bevölkerungsgruppen in Europa ist ein mangelhafter Zugang zu unverzichtbaren Medizinprodukten eine ernste Bedrohung. Das bedeutet, dass Medikamente, selbst für seltene Krankheiten, nicht nur sicher und wirksam sind, sondern auch jederzeit verfügbar und erschwinglich sein sollten. Faktoren wie die Auswahl an Medikamenten auf dem Markt, die Schwerpunktbereiche der Pharmaforschung oder die Preisfestsetzungs-, Kosteneindämmungs- und -Erstattungsrichtlinien einzelner Länder beeinflussen die Verfügbarkeit. Wir Sozialdemokraten wollen, dass diese Faktoren analysiert werden, um Hindernisse zu beseitigen und Ungleichheiten beim Zugang zu Medikamenten und Behandlungen für Patienten zu verringern.
Besondere Relevanz für Europa hat auch die Zunahme von Antibiotikaresistenzen. Eine Ursache wird in der Landwirtschaft gesehen. Die EU will sich dafür einsetzen, den Antibiotika-Einsatz zu reduzieren. Schafft sie es, sich gegen die mächtige Landwirtschaftslobby durchzusetzen?
Peter Liese Wir haben – auch gegen Widerstand der Vertreter der Landwirtschaft – eine Reform des Veterinärarzneimittelrechts der EU beschlossen. Die Antibiotikagabe wird sehr viel strenger überwacht und bestimmte Reserveantibiotika, die in der Humanmedizin unverzichtbar sind, werden in der Tierzucht komplett verboten. Aus meiner Sicht ist jetzt die Humanmedizin selbst am Zug. Immer noch werden viele Arzneimittel unkritisch und ohne wirkliche Indikationsstellung verordnet. Und an der Hygiene im Krankenhaus hapert es nach wie vor. Darüber hinaus brauchen wir dringend einen gesetzlichen Rahmen, damit sich die Entwicklung neuer Antibiotika lohnt.
Tiemo Wölken Neben der Reform des Veterinärarzneimittelrechts hat das Parlament unter Federführung der Sozialdemokraten im vergangenen Jahr den Aktionsplan zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen verabschiedet, der zu entschlossenem Handeln aufruft. Wir setzen uns für einen umsichtigen Einsatz von Antibiotika und eine vorausschauende Infektionsprävention und -bekämpfung in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung ein. Selbstverständlich betrifft Antibiotikaresistenz neben der Humanmedizin auch Veterinärmedizin, Tierhaltung, Landwirtschaft, Umwelt und Handel. Es darf nicht dazu kommen, dass gesunde Tiere Antibiotika verabreicht bekommen und dadurch unnötig Resistenzen aufgebaut werden. Resistenzen können nur mit einem ganzheitlichen Ansatz auf europäischer und nationaler Ebene und einer engen Zusammenarbeit im öffentlichen Gesundheits- und Veterinärwesen wirksam bekämpft werden. Die EU nimmt hier bereits heute eine Vorreiterrolle bei Forschung und Innovation in der Diagnostik und bei der Behandlung ein.
Kommen wir zum Thema digitale Gesundheit. Können wir Deutschen in Sachen Digitalisierung von den anderen europäischen Ländern lernen?
Peter Liese Wir können sehr stark von anderen europäischen Ländern lernen. Die Patienten verlangen auch mittlerweile massiv den Einsatz digitaler Technik. Deutschland muss dringend aufholen. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission haben schon 2011 im Rahmen der Patientenrechterichtlinie auf stärkere Harmonisierung in diesem Bereich gedrängt. Leider tritt Deutschland immer auf die Bremse, das muss sich meiner Meinung nach ändern.
Tiemo Wölken Im europäischen Vergleich bewegt sich Deutschland nur langsam voran. So sind die Krankenkassen erst ab 2021 verpflichtet, ihre Versicherten mit einer elektronischen Gesundheitskarte auszustatten. Auch die Verwendung von eRezepten soll voraussichtlich erst im Frühjahr 2020 möglich sein. Der immer größere Einfluss von E-Health wird allerdings europaweit von grundlegender Bedeutung für die Art und Weise sein, wie wir in Zukunft eine hochwertige Gesundheitsversorgung erreichen. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit personenbezogenen Daten. Der Datenschutz darf nicht nur als Innovationshemmnis gesehen werden, sondern muss integraler Bestandteil der Entwicklung sein. Es muss zum Beispiel die sichere Übertragung von Gesundheitsdaten im digitalen Binnenmarkt möglich sein, um auch im EU-Ausland eine angemessene Behandlung zu erhalten. Diese Themen können nur durch eine koordinierte, sorgfältige und wirksame EU-Regulierung gelöst werden.
Was tut die EU, um eine grenzüberschreitende Inanspruchnahme im Bereich EHealth zu ermöglichen?
Peter Liese Die EU muss hier im Sinne von Patienten und Ärzten eine Führungsrolle einnehmen. Die Digitalisierung schreitet auch im Gesundheitsbereich immer weiter voran und wir sollten die Chancen, die dies bietet, nicht ungenutzt lassen. Patienten besuchen heute unter anderem dank der EU-Patientenrechterichtlinie Ärzte im benachbarten EU-Ausland. Da ist es doch nur angebracht und folgerichtig, wenn den Ärzten dort auch alle relevanten Informationen über den Patienten vorliegen. Die EU sollte deshalb aus meiner Sicht die Voraussetzungen schaffen, dass die verschiedenen Systeme zumindest kompatibel sind, wenn es schon kein einheitliches System gibt. Auch der Datenschutz muss dann natürlich europaweit einheitlich gewährleistet werden.
Tiemo Wölken Das Ziel muss es sein, den Bürgern EU-weit Zugang zu einer vollständigen elektronischen Datei ihrer Gesundheitsdaten zu geben. Auf diese Weise sollten sie in der Lage sein, die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten zu behalten und sie für medizinische Behandlung, Vorsorge, Forschung oder für andere Zwecke, die sie für angemessen halten, zur Verfügung zu stellen. Der unbefugte Zugriff auf die Daten muss ausgeschlossen und strafrechtlich sanktioniert werden.
Noch eine Frage zum politischen System der EU. Immer wieder wird kritisiert, dass das europäische Parlament zu geringe Einflussmöglichkeiten habe, etwa Gesetzgebungsprozesse anzustoßen. Was soll aus Ihrer Sicht geschehen, damit der Einfluss des Parlaments größer wird?
Peter Liese Das Europäische Parlament hat umfassende Rechte, zum Teil sogar mehr als der Deutsche Bundestag. Beispielsweise führen wir Anhörungen mit den Kommissarsanwärtern durch. Nur wer zeigt, dass er von dem Thema – zum Beispiel Gesundheit – Ahnung hat und auch eine Vorstellung davon, wohin es gehen soll, kann Kommissar werden. Das wäre in Deutschland und in deutschen Bundesländern sicher auch ein gutes Instrument. Auch in Berlin werden Gesetze meist nicht vom Bundestag, sondern von der Bundesregierung vorgeschlagen. Deshalb ist die Frage des Initiativrechtes sekundär, aber selbstverständlich wäre es sinnvoll, das einzufügen. Die Diskussion darum darf nun beim besten Willen nicht dazu führen, dass man die Wahl als unbedeutend ansieht. Das Europäische Parlament entscheidet konkret, auch im Rahmen der Gesundheitspolitik, daher sollte jeder Bürger von seiner Stimme Gebrauch machen.
Tiemo Wölken Das Parlament hat mehr Rechte als gemeinhin angenommen wird. So müssen wir der Kommission in Gänze zustimmen und hören jeden Kommissar vor der Zustimmung in einem intensiven Hearing an. Dieses Recht hätten viele Bundestagsabgeordnete sicher gern, wenn Minister durch die Kanzlerin berufen werden. Dennoch ist es an der Zeit, das Europaparlament mit einem echten Initiativrecht auszustatten, damit nicht die Kommission alleine das Monopol hat, neue Gesetzesvorschläge zu machen.