Unter einem Reizdarmsyndrom mit Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung leiden immer mehr Menschen. Darunter zunehmend Jüngere. Weit verbreitet ist die Scham, über die Krankheit und ihre Symptome zu sprechen, auch gegenüber den Ärzten. Zudem zeigen sich Defizite bei Diagnostik und Behandlung. Hier wird viel Geld ausgegeben, oft unnütz und ohne Erfolg. Grund genug für den aktuellen BARMER-Arztreport, die Volkskrankheit zum Schwerpunktthema zu machen.
Bei rund einer Million Menschen in Deutschland wurde im Jahr 2017 die Diagnose Reizdarmsyndrom gestellt. Das geht aus der Auswertung von Routinedaten der 9,2 Millionen BARMER-Versicherten hervor. Die Dunkelziffer ist allerdings vermutlich mehr als zehnmal so hoch. Das lässt sich jedenfalls aus Befragungsstudien schließen, nach denen in Deutschland bis zu 16 Prozent der Bevölkerung, also gut elf Millionen Menschen, an chronischen Verdauungsproblemen leiden. Diese Diskrepanz ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Erkrankung nach wie vor ein Tabuthema ist. Viele empfinden die Symptome als intim und beschämend. Sie sprechen noch nicht einmal mit ihrem Arzt darüber. Dabei ist der Leidensdruck groß, denn die Krankheit schränkt den Alltag der Betroffenen in vielen Bereichen stark ein. Schon der Weg zur Arbeit kann zur Belastung werden, wenn der Darm nicht so mitspielt, wie er sollte. Aber auch Treffen mit Freunden oder Freizeitaktivitäten können zur Tortur werden.
Zunehmend Jüngere betroffen
Betroffen sind zunehmend jüngere Erwachsene. Während die Zahl der diagnostizierten Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung zwischen 2005 und 2017 um 30 Prozent gestiegen ist, betrug der Zuwachs bei den 23- bis 27-Jährigen 70 Prozent. Diesen starken Anstieg besonders bei den jungen Erwachsenen machen die Studienautoren unter anderem in veränderten Ernährungsgewohnheiten und einer veränderten Bereitschaft zur Thematisierung der Beschwerden aus. Nichtsdestotrotz dauert es immer noch viel zu lange, bis die Krankheit sicher diagnostiziert ist. Auch das belegen die Daten aus dem Arztreport. Wer an einem Reizdarmsyndrom erkrankt ist, verursacht den Datenauswertungen zufolge bereits acht Jahre vor der Erstdiagnose deutlich höhere Kosten als Vergleichspersonen, die diese Erkrankung nicht haben. Gründe hierfür sind unzählige Untersuchungen und Arztbesuche, die der richtigen Diagnosestellung vorausgehen. Dabei setzen die Ärzte viel zu oft auf bildgebende Verfahren mit zweifelhaftem Nutzen wie CT oder MRT, anstatt die Patienten näher zu ihrem Lebensstil zu befragen.
Therapien zulasten der Patienten
Aber auch bei der Therapie zeigen sich Schwächen. Auffällig häufig werden den Patienten sogenannte Protonenpumpenhemmer verordnet, offensichtlich weil zu den Symptomen des Reizdarmsyndroms auch Magenbeschwerden zählen. Fast 40 Prozent, also rund 400.000 der Betroffenen, erhalten diese Medikamente, deren Nutzen bei einem Reizdarmsyndrom umstritten ist. Zudem besteht die Gefahr, dass die Medikamente abhängig machen und das Osteoporose-Risiko erhöhen. Rund 100.000 Patienten erhalten zudem opioidhaltige Schmerzmittel. Neben deren fraglicher Wirkung besteht auch hier ein hohes Risiko für eine Medikamentenabhängigkeit. In beiden Fällen werden die Patienten unnötigen Risiken ausgesetzt, ohne dass ihnen wirklich geholfen wird.
Höhere Diagnoseraten in alten Bundesländern
Sieht man sich die regionale Verteilung der Diagnoseraten an, scheint das Reizdarmsyndrom eher ein Problem der Menschen in den westlichen Bundesländern und Berlin zu sein, wenngleich die Unterschiede nicht gravierend ausfallen. Die neuen Bundesländer, mit Ausnahme Thüringens, weisen die geringsten Erkrankungszahlen auf. Das Saarland bildet mit 1,53 Prozent Betroffenen die Spitze, gefolgt von Baden-Württemberg und Bremen. Schlusslicht im positiven Sinne ist Sachsen-Anhalt mit 1,06 Prozent Betroffenen, die zweit- und drittniedrigste Rate weisen Sachsen und Brandenburg auf. Inwieweit die regionalen Unterschiede der Diagnoseraten durch eine unterschiedliche Auffassung der Erkrankung bei den Patienten oder unterschiedliche Diagnosekodierungen beeinflusst werden, lässt sich nicht genau abschätzen.
Ganzheitlicher Blick notwendig
Anstelle der Überdiagnostik mit bildgebenden Verfahren und der Verordnung meist nutzloser Medikamente sollten die Ärzte beim Reizdarmsyndrom einen ganzheitlichen Blick auf Körper, Geist und Lebensstil der Patienten werfen. Oft spielen psychosomatische Faktoren eine große Rolle. Deshalb verspricht ein multidisziplinärer Behandlungsansatz die größten Erfolgsaussichten auf Linderung der Beschwerden. Hierbei müssen Hausärzte, Internisten, Schmerztherapeuten, aber auch Psychotherapeuten und Ernährungsexperten eng zusammenarbeiten. Auch die Patienten selbst können viel dazu beitragen, dass es ihnen wieder besser geht. Etwa in dem sie mehr auf ihre Ernährung und ihr Essverhalten achten, mehr Sport treiben und sich geeignete Entspannungsübungen aneignen.
www.barmer.de
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