Manifest

Für ein gemeinsames soziales Europa von morgen

Die Fédération Nationale de la Mutualité Française (FNMF) hat zusammen mit der Association Internationale de la Mutualité (AIM) ein Manifest veröffentlicht, das zu einem sozialeren, solidarischeren und integrativeren Europa aufruft. Es lädt Menschen aus der gesamten Europäischen Union (EU) ein, sich an einer Debatte über die Zukunft Europas und die Rolle der Gesundheits- und Sozialversicherungen zu beteiligen. Auch der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) als Mitglied der AIM unterzeichnete das Manifest, um seine Solidarität zu bekunden und seiner Mitverantwortung für die Erreichung eines sozialen Europas Ausdruck zu verleihen.

Logo Association Internationale de la Mutualité (AIM)

Europa befindet sich in einem Schwebezustand angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament 2019. Ein idealer Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, wie die EU von morgen aussehen könnte und vor allem wie wir, die Gegenseitigkeitsgesellschaften, sie uns wünschen. Wir glauben an die europäischen Grundwerte und begrüßen ihre historischen, wenn nicht in der Geschichte der Menschheit einmaligen Errungenschaften in Bezug auf: Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Freizügigkeit. Aufgrund dieser Werte ist die EU eine historische, außergewöhnliche Leistung. Es bleibt bemerkenswert, dass es in dieser kleinen Region mit einer historisch gewachsenen Vielfalt an Kulturen und Sprachen den Nationen so lange Zeit gelungen ist, miteinander zu sprechen und gemeinsam etwas zu erreichen, wo sie in der Vergangenheit oft gegeneinander Krieg geführt haben.

Und dennoch haben sich Europa und die Welt in den letzten 60 Jahren verändert. Wir haben die Wirtschafts-, Finanz- und Staatsschuldenkrise noch nicht überwunden. Und sie hat Spuren hinterlassen: Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sind gestiegen, vor allem bei den jungen Menschen. Gleichzeitig gefährden geopolitische Veränderungen – Digitalisierung, Klimawandel, Migrantenströme oder Terrorismus – die Fähigkeit der Europäer zur Zusammenarbeit. Angesichts dieser Entwicklungen kann die EU nicht mit ihren üblichen Instrumenten reagieren, nicht durch eine Ausweitung des Marktes, nicht durch die Schaffung von mehr Freiheiten, nicht durch die Öffnung von Grenzen und nicht durch die Errichtung eines großen Raums mit freiem Personenverkehr für alle Europäer. Eine Mehrheit der Briten hat mit dem Brexit-Referendum bereits gegen dieses Europa der Freiheiten und der wirtschaftlichen Integration gestimmt.

Zudem wird sich die EU nicht auf ihre übliche „Klientel“ beschränken können. Bislang wurde ihre Politik von der Wirtschaft, den Studierenden und gut ausgebildeten, wohlhabenden Bürgern begrüßt. Doch Europa muss auch die Einkommensschwachen, die benachteiligten Gruppen und die regional Verwurzelten erreichen, die von diesen Freiheiten nicht profitieren, sie nicht als eine Chance sehen, sondern als eine Bedrohung wahrnehmen.

Alle Bürger sehnen sich nach Zuversicht und Sicherheit, doch es besteht eine tiefe Kluft zwischen denen, die von den Vorteilen des europäischen Projekts profitieren konnten, und denen, die von den Ungleichheiten betroffen sind und von Europa Schutz erwarten. Darunter gibt es viele, die selbst die Daseinsberechtigung der EU infrage stellen: Was sind ihre Ziele? Hat sie noch eine Zukunft? Oder die sie als das trojanische Pferd der Globalisierung bezeichnen. Wieder andere sind einfach resigniert, gleichgültig und fühlen sich nicht länger dazugehörig.

Die Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ist vertragsgemäß eines der Hauptziele der EU. Jedoch ist dies noch nicht erreicht. Infolgedessen fühlen sich diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die am meisten unter Ungleichheiten leiden, vergessen und vom Europaprojekt ausgeschlossen. Sie sehen keine Vorteile darin, ein Teil der EU zu sein. Wie also können sie „einbezogen“ und wieder Teil des europäischen Projekts werden?

Wir blicken gespannt auf die nächsten Europawahlen, da wir auf eine Veränderung drängen. Ein Aufbruch in ein Europa der Solidarität, wo der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt Wirklichkeit wird. Europa muss in der Lage sein, die physische und wirtschaftliche Sicherheit aller Europäer zu garantieren. Es muss das tägliche Leben seiner Bevölkerung verbessern und die Umwelt schützen, in der wir leben.

Das europäische Projekt ist noch immer nicht vollendet, da die EU nicht die nötige Kompetenz besitzt, die drängendsten Probleme der Bürger zu lösen. Wir sind der Ansicht, dass der EU mehr supranationale Zuständigkeiten übertragen werden sollten, damit sie in diesen zentralen Angelegenheiten Lösungen anbieten und das Vertrauen der Bürger in das EU-Projekt wiedergewinnen kann.

Es ist absolut dringend, dass wir wieder an ein europäisches Narrativ anknüpfen, mit dem wir uns identifizieren können. Es geht darum, dass alle Europäer „wir, die Europäer“ denken und nicht „die da in Brüssel“ oder sogar „die vom Kontinent“, wie in Großbritannien zu hören war. Die nationale und die regionale Identität stehen nicht im Widerspruch zu einer europäischen. Die europäische Identität baut auf nationale und regionale Geschichte, Kultur und Werte auf.

Das Thema Schutz stand im Mittelpunkt der Europäischen Bürgerkonferenzen, die von der Europäischen Kommission organisiert wurden. Ausführlich gesprochen wurde dabei über das soziale Europa, Gesundheit, Solidarität, Umwelt, Arbeit und Beschäftigung. Und gerade zu diesen Punkten sind in Europa inzwischen die Ideen und der Wille für ein gemeinsames politisches Handeln abhandengekommen.

Die Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte ebnete den Weg zu einem neuen Gesicht Europas: einem sozialen Europa, das seine Bürger schützt und in der Lage ist, ihre konkreten Bedürfnisse an Gesundheit und sozialem Schutz zu erfüllen. Als Akteure der Sozialwirtschaft spielen die Mutualitäten eine wesentliche Rolle bei der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte. Sie tragen zum Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei, während sie die Werte Solidarität, soziale Inklusion, eine demokratische Unternehmensführung, den Vorrang des Individuums und des Unternehmenszwecks vor die Interessen des Kapitals an die vorderste Front stellen.

Mit dieser Erklärung wollen wir, die Mutualitäten – Mitglieder einer europäischen Familie von Akteuren der Zivilgesellschaft und des sozialen Fortschritts – zum Ausdruck bringen, dass wir an eine Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger in allen 28 Mitgliedstaaten glauben. An eine Mobilisierung, zu der wir in nächster Zukunft beitragen wollen. Das mutualistische, also auf Gegenseitigkeit basierende Modell kann Antworten auf die wirtschaftlichen, sozialen und demokratischen Herausforderungen geben, vor denen Europa steht. Unser Ehrgeiz ist es, die Ideen, auf denen die Gründung der EU basiert, wiederzubeleben, indem wir die Zukunft des Sozialschutzes in Europa in den Mittelpunkt von nationalen politischen Debatten stellen.

Wir wollen eine Vision eines fairen Europas verwirklichen, welches den Wohlstand gerecht verteilt und auf die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt achtet. Wir glauben, dass die Werte der Solidarität und unsere Vorstellung von einer demokratischen Gesellschaft das sind, was uns als Europäer auszeichnet.

Europäische Bürger, lasst uns den Mut haben, das europäische Projekt zu verteidigen. Mit anderen Worten: Wenn wir Frieden wollen, müssen wir mehr Gerechtigkeit schaffen.

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