Interview mit Uwe Klemens und Dr. Susanne Wagenmann

Leistungsstarke Gesundheitsversorgung in Europa

Was nach der Europawahl auf der gesundheitspolitischen Agenda steht, wie die gesetzlich Versicherten in Deutschland von Europa profitieren und wie Europa umgekehrt von der sozialen Selbstverwaltung profitiert, erläutern die beiden alternierenden Verwaltungsratsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes, Uwe Klemens (vdek-Verbandsvorsitzender) und Dr. Susanne Wagenmann (Leiterin Abteilung Soziale Sicherung bei der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände), im Interview.

Uwe Klemens (vdek-Verbandsvorsitzender) und Dr. Susanne Wagenmann (Leiterin Abteilung Soziale Sicherung bei der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände)

Welche Vorteile bietet Europa den gesetzlich Versicherten in Deutschland?

Klemens: Die Europäische Union (EU) ist ein einmaliges Erfolgsprojekt, das für soziale Rechte, gemeinsames Wirtschaften und ein Leben in Frieden und Freiheit steht. In der EU verbinden uns gemeinsame Werte: die uneingeschränkte Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. In der EU genießen die Menschen volle Freizügigkeit. Sie leben vorübergehend oder dauerhaft im Ausland, studieren und arbeiten dort. Die mobilen Versicherten können sich dank der europäischen Koordinierung der Sozialversicherungssysteme auch bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit auf eine gute Absicherung verlassen. Die Krankenkassen sorgen dafür, dass die Gesundheitsversorgung grenzüberschreitend ist.

Inwieweit profitiert Europa von der sozialen Selbstverwaltung?

Wagenmann: Als Selbstverwaltung bringen wir unsere Erfahrung seit über 30 Jahren auch auf europäischer Ebene ein. Die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung wirkt mit ihrer Expertise in den Gremien und Gesetzgebungsprozessen auf europäischer Ebene mit. Die Umsetzung in den Mitgliedstaaten, den Gesundheitssystemen und den verantwortlichen Institutionen vor Ort kann so möglichst effektiv erfolgen. Die europäischen Institutionen sind auf die Akteurinnen und Akteure in den Mitgliedstaaten angewiesen. Darum ist es unerlässlich, dass die Selbstverwaltung bei der Planung von Reformen und deren Umsetzung berücksichtigt wird.

Geplant ist ein Europäischer Gesundheitsdatenraum. Wie wird er die Versorgung mit Blick auf die Gesundheitsdaten verbessern?

Klemens: Die Verabschiedung des Europäischen Gesundheitsdatenraums durch das Europäische Parlament im vergangenen April hat den Weg frei gemacht für eine verbesserte grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung. Für die mobilen Versicherten wird die Behandlung künftig noch einfacher, etwa durch den digitalen Austausch von Behandlungsdaten, Rezepten und Abrechnungen. Dabei gilt es, diese sensiblen Gesundheitsdaten jederzeit sicher zu behandeln. Das heißt auch, dass die Steuerung der Zugriffsrechte bei den Versicherten liegen muss. Wir unterstützen es, Gesundheitsdaten für die Forschung und Entwicklung von neuen Behandlungsmethoden zur Verfügung zu stellen, wenn die Datensicherheit gewährleistet ist. Das stärkt die Versorgung. Auch für die Krankenkassen ist es wichtig, Gesundheitsdaten zu nutzen, um sie zum Wohle der Versicherten einzusetzen, beispielsweise in der Prävention.

Wie kann die digitale Mobilität im Kontext mit der Freizügigkeit in der EU zukunftsfähig aufgestellt werden?

Wagenmann: Die Digitalisierung ist ein entscheidender Hebel für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Sozialversicherungssysteme. Innerhalb der EU funktionieren viele elektronische Abrechnungs- und Verwaltungsprozesse für die Versicherten bereits reibungslos. Doch es braucht weitergehende europäische Initiativen. Die müssen natürlich den operativen Anforderungen der Sozialversicherungsträger entsprechen. Wir wollen den Zugang der Versicherten zu den Leistungen erleichtern. Für den Arbeitsmarkt wünschen wir uns mehr Flexibilität im Sozialversicherungsrecht für das grenzüberschreitende mobile Arbeiten. Zentral sind hier der digitale Europäische Sozialversicherungspass (ESSPASS) und die vollständig digitalisierte A1-Bescheinigung.

Derzeit wird eine europäische Arzneimittelreform beraten. Was fordern Sie als Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung?

Klemens: Für die Reform müssen wir das richtige Verhältnis finden. Einerseits wollen wir für die Versicherten den Zugang, die Verfügbarkeit und die Bezahlbarkeit von Arzneimitteln stärken. Gleichzeitig ist es wichtig, die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der Pharmaunternehmen weiter zu stärken. Als Krankenkassen treten wir dafür ein, mit verkürzten Schutzfristen den Wettbewerb durch Generika und Biosimilars zu stärken und die finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme zu sichern. Um Lieferengpässe zu vermeiden, brauchen wir mehr Transparenz in den Lieferketten.

Immer bedeutender wird der Klimaschutz als Gesundheitsschutz. Was braucht es für ein nachhaltiges und klimaneutrales Gesundheitswesen?

Wagenmann: Die EU hat sich das Ziel gesetzt, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. In Deutschland brauchen wir dafür den Abbau von Über- und Fehlversorgungen und den Ausbau der Digitalisierung. Wir müssen verantwortungsvoll mit Ressourcen umgehen. Der Gesetzgeber ist gefordert, um Doppeluntersuchungen, vermeidbare Eingriffe, unnötige Krankenhausaufenthalte und nicht therapiegerechte Verordnungen zu minimieren. Bei der Prävention und Behandlung klimabedingter Gesundheitsrisiken wollen wir besonders auf die vulnerablen Versicherten achten. Sie brauchen mehr Hilfe als andere. Aber klar ist auch: Die notwendige Infrastruktur für Hitze- und Katstrophenschutz ist die Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Die Krankenkassen haben dann die Aufgabe, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Versorgung abzuschätzen und betroffene Versicherte mit gesundheitsbezogenen Empfehlungen zu beraten.

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