Der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege setzt sich in seinem aktuellen Gutachten mit Fachkräften im Gesundheitswesen und dem nachhaltigen Einsatz einer knappen Ressource auseinander. Prof. Dr. Michael Hallek ist Vorsitzender des Sachverständigenrats und erklärt im Interview, wo die Probleme liegen, welche Veränderungen nötig sind und wieso mehr Personal allein keine Lösung sein kann.
Fehlen uns Fachkräfte im Gesundheitswesen?
Prof. Dr. Michael Hallek: Der Fachkräftebedarf ist eine der größten Herausforderungen. Wir scheinen in allen Branchen und damit auch im Gesundheitswesen zu wenig Personal zu haben. Das liegt vor allem an dem demografischen Wandel und im Gesundheitswesen zudem an der Tatsache, dass immer mehr Menschen versorgungspflichtig werden, während gleichzeitig weniger Menschen nachkommen, die diese Versorgung übernehmen. Daher haben wir immer wieder Schwierigkeiten, Fachkräfte zu finden, zumindest in der Pflege und mit Blick auf medizinische Fachangestellte. Bei den Hausärzten gibt es eindeutig einen Mangel, ebenso in bestimmten spezialfachärztlichen Berufen. Deshalb waren wir im Sachverständigenrat überrascht, als wir uns die Datenlage genauer angeschaut haben. Es ist nämlich so, dass wir im internationalen Vergleich bezogen auf die Bevölkerung – man kann auch sagen gerechnet auf 100.000 Einwohner – mehr praktisch tätige Pflegekräfte und Ärzte haben als fast alle europäischen Nachbarn.
Die knappe Ressource Personal, von der Sie im Gutachten sprechen, hat also etwas mit unseren Strukturen zu tun?
Ja, und das erkennt man, wenn man die Personalsituation in Relation zu den Fallzahlen setzt. In Deutschland behandeln wir in den Krankenhäusern doppelt bis drei Mal so viele Fälle wie viele europäische Nachbarländer. In der Folge entstehen demnach sehr viele Krankenhausfälle, welche das Krankenhaus-Personal belasten. Also lassen sich Engpässe nicht einfach durch zu wenig Personal erklären. Die Zahlen weisen auf eher strukturelle Defizite hin. Daher können wir auch nicht davon ausgehen, dass sich die Situation zum Guten wendet, wenn wir einfach mehr Menschen ausbilden oder einstellen. Im Gegenteil, man darf befürchten, dass die Einstellung von mehr Personal die Defizite der Strukturen weiter verstetigt oder fördert.
Wie wirkt sich das auf die Versorgung aus?
Ein Effekt ist, dass Krankenhäuser ihre Funktionsfähigkeit verlieren, weil das Personal – vor allem das Pflegepersonal – aufgrund der Belastungen nicht mehr im Krankenhaus arbeiten möchte und in andere Bereiche, etwa in ambulante Strukturen, wandert. Dadurch sind etliche, darunter auch viele große Krankenhäuser nicht mehr voll leistungsfähig. Sie müssen Operationssäle und Abteilungen schließen, was Krankenhäuser in die Insolvenz treibt. Entsprechend können Patienten nicht immer zeitnah optimal versorgt werden. Auffällig ist auch, dass es immer schwieriger wird, einen schwerkranken, chronisch kranken oder komplex erkrankten Patienten in eine vernünftige Versorgungssituation zu bringen. Das ist eine Gemengelage, die mir Sorge macht. Der früher sehr einfache Zugang zum deutschen Gesundheitswesen scheint sich im Moment zu verschlechtern, es findet sich nicht mehr so leicht für jedes Problem eine Anlaufstelle. Man muss aber auch klar sagen, dass wir in den Daten keine dramatischen Versorgungsengpässe in Krankenhäusern feststellen konnten.
Und im ambulanten Bereich?
Auch hier konnten wir noch keine massive Unterversorgung feststellen. Es wird viel getan, Pflegekräfte oder Medizinische Fachangestellte in Arztpraxen zu rekrutieren. Trotz einiger Personalengpässe wissen wir, dass der Beruf der Medizinischen Fachangestellten zurzeit der am häufigsten gewählte Ausbildungsberuf ist in Deutschland, vor allem von Frauen. Es ist also nicht so, dass dem Arbeitsplatz Gesundheitswesen die Leute systematisch weglaufen. Zwar gibt es einen Rückgang durch ein natürliches Ausscheiden aus Altersgründen, aber es gibt auch viele Pflegekräfte, die länger im Beruf bleiben oder zurückkehren. Daher: Mangelsituation ja, aber nicht so dramatisch wie erwartet.
Inwieweit sind dann die Anwerbung von ausländischen Fachkräften und Ausweitung von Medizinstudienplätzen sinnvoll?
Man sollte differenzieren. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist anzunehmen, dass wir insbesondere in der Langzeitpflege durchaus Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften haben werden. Aber die Anwerbung ausländischer Pflegefachkräfte würde nur bedingt helfen. Und jetzt mehr Medizinstudienplätze zu schaffen, kann die beabsichtigte Wirkung verfehlen; denn bis die Studierenden als Fachärzte tätig sind, ist das demografische Problem vielleicht schon fast vorbei, denn die Zahl der zu versorgenden Bürger nimmt nach 15 bis 20 Jahren wieder ab. In 20 Jahren haben wir dann womöglich zu viele Ärzte für zu wenige Patienten.
Was also schlagen Sie vor?
Als Sachverständigenrat sehen wir drei große Bereiche vor, um die Situation zu verbessern: erstens das Angebot an Fachkräften qualitativ und quantitativ verbessern, zweitens die Nachfrage nach Fachkräften verringern und drittens das System strukturell weiterentwickeln. Mit Blick auf den ersten Punkt sollte die Anstrengung dahin gehen, den Arbeitsplatz attraktiver zu machen und die Arbeitsbedingungen umzugestalten. Dazu gehört, mehr Eigenständigkeit für die Tätigkeit der Pflegefachkräfte herzustellen. Ein großes Manko ist, dass wir in Deutschland auch viele ausländische Pflegefachkräfte wieder verlieren, weil sie weniger eigenständig tätig sein dürfen als im Ausland. Wir müssen den Pflegefachkräften mehr zutrauen und ihnen Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Verbesserungswürdig ist trotz eingeführter Tarifpflicht und neuer Tarifverträge auch die Vergütung, auch als Zeichen der Wertschätzung.
Der zweite Punkt: Wie lässt sich die Nachfrage verringern?
Wir haben einen Vorschlag für die Pflege gemacht, den ich persönlich sehr gut finde. Gerade in der Langzeitpflege ist es häufig so, dass der regionale Überblick darüber, wer eigentlich wen versorgt, ungenügend ist. Daher empfehlen wir, Pflegekoordinationszentren einzurichten, die den Einsatz in definierten Gebieten nach dem Bedarf steuern können. Dadurch könnten Fachkräfte sinnvoller eingesetzt und Ausfälle leichter kompensiert werden. Und damit wären wir beim dritten Punkt: Wir müssen die Strukturen optimieren und dies wäre ein Beitrag dazu.
Stichwort Strukturveränderungen: Wo sehen Sie da die größten Effekte?
Große Effekte versprechen wir uns von der Notfallreform. Wir haben Erkenntnisse, dass Kranken- und Rettungsdiensttransporte in bis zu 60 Prozent unnötig sind. Es werden Patienten ins Krankenhaus gebracht, obwohl sie möglicherweise vor Ort hätten versorgt werden können. Daher wäre die Befähigung des Rettungsdienstes, selbst tätig zu werden, eine wesentliche Verbesserung. Derzeit wird der Rettungsdienst im Grunde nur für den Transport bezahlt. Ein Beispiel: Ein Pflegeheim ruft nachts den Rettungsdienst, dem nichts anderes übrigbleibt, als die Person ins Krankenhaus zu fahren, weil kein Arzt vor Ort ist. Oder: Ein Patient verbleibt im Krankenhaus, weil seine Wohnsituation – fünfter Stockwerk ohne Aufzug – eine Rückkehr nach Hause verhindert und er sich im häuslichen Umfeld nicht mehr mit dem Nötigsten versorgen kann. Wir haben viele solche sozialen Indikationen, die zu Krankenhausaufenthalten führen. Würde man solche Versorgungslücken schließen und Fehlanreizen entgegensteuern, könnte man bis zu 30 Prozent der stationären Belegungstage reduzieren.
Bislang ist der Rettungsdienst aber nicht Teil der Notfallreform.
Der Rettungsdienst muss auf jeden Fall mitgedacht werden. Derzeit werden nur die Leitstellen zusammengelegt, das ist vielleicht zu wenig. Man sollte zumindest versuchen, miteinander koordinierte und kommunizierende Systeme zu schaffen. Die gemeinsamen Leitstellen könnten in dieser Hinsicht einen großen Effekt haben, weil dadurch die niedergelassenen Versorger und die Krankenhäuser gemeinsam und gleichberechtigt die Notfallversorgung organisieren. Wenn wir die Versorgung sinnvoller kanalisieren, können wir die Zahl der Krankenhausaufnahmen dramatisch reduzieren, ohne dass es zu einer schlechten Versorgung kommt.
Zugleich wird um die Krankenhausreform gerungen, die den Abbau von Überkapazitäten vorsieht. Dass Krankenhäuser schließen, stößt in der Bevölkerung teilweise auf Bedenken und die Politik tut sich schwer damit, Schließungen zu kommunizieren.
Hier brauchen wir tatsächlich mehr Aufklärung. Ziehen wir Dänemark als Vergleich heran: Das Land hat etwa 30 öffentliche Krankenhäuser, es leben dort sechs Millionen Menschen. Entsprechend bräuchten wir in Deutschland etwa 400 Krankenhäuser – wir haben derzeit etwa 1.700 Krankenhäuser. Jetzt könnte man sagen, die geringe Anzahl an Krankenhäusern sei eine Katastrophe für die dänische Bevölkerung. In Wahrheit ist dies aber nicht so, und das ist der entscheidende Punkt. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Dänemark ist höher als bei uns und die Zufriedenheit mit dem Gesundheitswesen sowie das Vertrauen in das System sind hoch. Dies liegt auch daran, dass ein riesiger Teil der Versorgung ambulant stattfindet. Selbst manche intensive Chemotherapie wird nicht mehr stationär durchgeführt. Mit dem Ergebnis, dass die Überlebenszahlen in Dänemark eher besser sind als bei uns und die Versorgung dazu noch preiswerter. Es ist wichtig, den Bürgern zu erklären, dass die zeitnahe Behandlung von Notfällen – vor allem Schlaganfällen und Herzinfarkten, auch schweren Unfällen – sichergestellt wird und für alles andere etwas weitere Fahrtwege in Kauf genommen werden müssen für eine optimale Behandlungseinstellung. Das versteht meines Erachtens jeder und ich wundere mich immer wieder, wieso das so schwer sein soll zu kommunizieren. Ich verstehe, dass es in ländlichen Regionen bedrückend sein kann, wenn das Krankenhaus schließt und die Hausarztpraxis leer steht. Das ist aber eine strukturpolitische Aufgabe, die mit einem Krankenhaus nicht gelöst wird. Um es überspitzt zu formulieren: Die allgemeinärztliche Versorgung über Krankenhäuser zu organisieren, ist unsinnig und zu teuer.
Brauchen wir mehr Ambulantisierung?
Auf jeden Fall. Wir sollten versuchen, Eingriffe im Krankenhaus zu reduzieren, die ambulant genauso gut, wenn nicht besser erfolgen können. Ich denke da beispielsweise an Endoskopien und Punktionen. Die Erweiterung des Hybrid-DRG-Katalogs für das ambulante Operieren ist in dieser Hinsicht eine sinnvolle Weiterentwicklung. Es lässt sich mindestens die Hälfte des Personals einsparen, wenn bestimmte medizinische Maßnahmen ambulant erfolgen oder eine Klinik zu einer Tagesklinik wird. Das ist ein Trend, den wir stärken sollten. Was wir außerdem vorschlagen, sind Primärversorgungszentren. Bei dem Konzept sucht der Patient primär den Hausarzt auf, der entscheidet, ob der Patient wirklich einen Spezialisten benötigt, ob er ins Krankenhaus überwiesen werden muss oder ob eine anderweitige Behandlung sinnvoll ist. Das reduziert sowohl die ambulante, spezialfachärztliche Inanspruchnahme als auch Krankenhausaufnahmen.
Der vdek hat im Rahmen seines Konzepts der Regionalen Gesundheitszentren (RGZ) das Modell der „Regionalen Gesundheitspartner der Ersatzkassen“ auf den Weg gebracht. Dort können unter anderem auch Fachärzte vor Ort sein und Physician Assistants sowie Case und Care Manager unterstützen die Ärzte.
Auch das ist sehr gut. Diese Überlastung von Anfragen an Fachärzten kann auf diese Weise reduziert werden. Wir haben in Deutschland die doppelte Facharztschiene, so gesehen ist die Integration von Fachärzten in solche Zentren gut. Dennoch schien uns im Sinne der Über- und Fehlversorgung sinnvoll, Einschreibungssysteme zu etablieren, in denen primär der Hausarzt aufgesucht wird. In Dänemark und den Niederlanden beispielsweise ist es nicht möglich, einfach zum Facharzt gehen, da muss man vorher beim Generalisten gewesen sein.
Und wie viel Potenzial steckt in der Digitalisierung?
Da sehe ich riesige Potenziale. Wir haben hohe Zeit- und Effizienzverluste durch zu viel Bürokratie. Wir müssen oft viele Befunde aus unterschiedlichen Quellen zusammentragen und auf CD brennen, weil Systeme nicht angeglichen sind. Das muss dringend verbessert werden. Und natürlich muss dokumentiert werden, aber wie und wie intensiv ist die Frage. Da kann uns die Künstliche Intelligenz enorm helfen. Es gibt es zum Beispiel inzwischen so gute Spracherkennungsprogramme, mit denen sich Befunde präzise und schnell diktieren lassen. Das erleichtert unsere tägliche Arbeit enorm und trägt somit zur Reduzierung des Fachkräftemangels bei.
Was erwarten Sie hinsichtlich der Vorschläge des Sachverständigenrats?
Mit der Umsetzung unserer strukturellen Vorschläge könnte eine Halbierung der Krankenhausfälle erreicht werden. Das zeigen unsere Modellrechnungen. Ob dies tatsächlich gelingt, wage ich nicht zu prognostizieren. Denn unser Gesundheitswesen ist wegen der vielen Partikularinteressen nicht wirklich reformfähig. Man kommt an echten Veränderungen nicht mehr vorbei. Der Druck ist zu hoch.