Statt einer dringend anstehenden Pflegefinanzreform hat das Bundeskabinett am 3. Juli 2024 den Bericht einer interministeriellen Arbeitsgruppe zur zukünftigen Finanzierung der Pflege beschlossen. Das rund 130 Seiten starke Werk beschreibt unterschiedliche Finanzierungsoptionen für die Pflegeversicherung und soll Kompass für politische Entscheidungen sein. Diese sind längst überfällig, denn die soziale Pflegeversicherung (SPV) läuft in eine finanzielle Schieflage.
Zum Ende des Jahres 2024 wird der SPV ein Defizit von mindestens 1,5 Milliarden Euro prognostiziert, nächstes Jahr werden es vermutlich rund 3,5 Milliarden Euro sein. Damit wird der Mittelbestand Anfang 2025 bereits unterhalb einer Monatsausgabe liegen, die Zahlungsfähigkeit des Ausgleichsfonds kann nur mühsam aufrechterhalten werden. Diese sich zuspitzende Lage kommt nun wirklich nicht überraschend. Der stetige hohe Anstieg der Leistungsbezieher, die einmalig hohe Zuführung in den Pflegevorsorgefonds und der seit 2024 ausgesetzte Bundeszuschuss in Höhe von einer Milliarde Euro sind wahrlich nicht erst gestern „vom Himmel gefallen“.
Umfassende Analyse
Die Einhaltung der Finanzzusagen aus dem Koalitionsvertrag zur Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge pflegender Angehöriger oder die vollständige Erstattung der pandemiebedingten Mehrausgaben würde die Situation kurz- bis mittelfristig zumindest entschärfen. In dieser Situation legt nun eine unter Leitung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe einen umfassenden Bericht zur Finanzsituation vor. Dieser enthält keine politischen Festlegungen, zeigt stattdessen viele denkbare Handlungsoptionen wertfrei auf. Beim Lesen des Werks muss man hingegen aufpassen, nicht den Überblick zu verlieren, beschreibt es doch so viele Eventualitäten und Szenarien, dass man den roten Faden leicht verlieren kann.
Zunächst geht der Bericht umfänglich auf den Status quo ein und hebt die starke Zunahme der Leistungsempfänger seit Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 hervor. Die Zahl ist jährlich um durchschnittlich 300.000 und zuletzt um 360.000 angestiegen. Das BMG kündigt hier eine weitere wissenschaftliche Analyse dieser Entwicklung an. Weiter wird eingehend untersucht, wie sich die finanziellen Rahmenbedingungen in einem Teilleistungssystem beziehungsweise einer Pflegevollversicherung entwickeln und wie eine künftige Finanzierungslücke durch (verpflichtende) ergänzende Maßnahmen zur Kapitaldeckung oder im Umlageverfahren geschlossen werden können. Damit geht der Bericht auf Festlegungen im Koalitionsvertrag ein, wo seinerzeit festgehalten wurde, dass die Bundesregierung prüfen wird, inwieweit die SPV um eine freiwillige paritätisch finanzierte Pflegevollversicherung ergänzt werden sollte.
Vier Grundszenarien
Es werden vier Grundszenarien behandelt: Zwei Szenarien gehen von einem Teilleistungssystem aus, einmal mit Weiterführung des Status quo und einmal mit einer verpflichtenden, ergänzenden individuellen Vorsorge (organisiert durch Privatwirtschaft). Die beiden anderen Szenarien beschäftigen sich mit einem Vollleistungssystem, einmal mit Bezug zum heutigen Teilleistungssystem ergänzt um einen solidarisch finanzierten Kapitalstock und einmal mit einem kompletten Umbau zum Vollleistungssystem im Umlageverfahren. Alle durchgespielten Grundszenarien werden anhand der drei wesentlichen Merkmale Leistungsdynamisierung, Lohnentwicklung und Pflegeprävalenz auf jeweils in der Zukunft entstehende Finanzierungslücken sowie den notwendigen ausgabendeckenden Beitragssatz hin untersucht. Hier gilt: Je besser die allgemeine Lohnentwicklung und je mehr es gelingt, die Steigerung der Pflegeprävalenz abzumildern, desto geringer ist der Finanzierungsbedarf. Zudem kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass eine Vollversicherung wegen des damit verbundenen „moral hazards“ eher kritisch gesehen wird, da die Versicherten davon befreit werden, für potenziell kostspielige Folgen ihres eigenen Handelns einzustehen.
Auch werden grundsätzliche Ansätze zur Stärkung der Einnahmenseite, zum Beispiel Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, Einbeziehung weiterer Einkunftsarten sowie Einbeziehung der privat Pflegeversicherten, sowie zur Entlastung der Ausgabenseite durch beispielsweise mehr Prävention und Veränderung des Zugangs zur SPV beschrieben.
Politisches Handeln gefragt
Der Bericht bleibt insgesamt konkrete Handlungsempfehlungen (kurz- und langfristig) schuldig. Dennoch liegt nun erstmals ein umfassender Baukasten neutral beschriebener Optionen vor, der auch vermeintlich unpopuläre Maßnahmen – wie beispielsweise einkommensabhängige Ausgestaltung der Leistungszuschläge oder auch die vom Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) seit Längerem ins Spiel gebrachte Option eines Risikoausgleichs zwischen SPV und privater Krankenversicherung (PKV) – wertungsfrei darstellt. Deutlich wird dabei, dass es um die finanzielle Zukunft der SPV nicht so schlecht bestellt ist, wie es die PKV gern in ihren derzeitigen Kampagnen darstellt. Der Bericht ist daher geeignet, den weiteren politischen Diskurs auf eine sachliche Grundlage zu stellen und das solidarische System zu stärken. Die Vielfalt der aufgezeigten Stellschrauben und Szenarien zeigt, dass es nicht die „Ideallösung“ geben wird, sondern die Stabilisierung der Pflegeversicherung ein politisches Maßnahmenbündel erfordert, das einzelne Zielkonflikte lösen oder auch hinnehmen muss. Nun ist die Politik mehr denn je gefragt, endlich politische Lösungen zu präsentieren. Die Zeit drängt und die Fakten liegen spätestens jetzt allesamt auf dem Tisch.
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