Interview mit Prof. Dr. Stefanie Joos, Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege

„Wir müssen den ambulanten Bereich grundlegend reformieren“

Seit Februar dieses Jahres ist Prof. Dr. Stefanie Joos Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege. Sie bringt vor allem ihre Expertise als Allgemeinmedizinerin und Versorgungsforscherin ein. Im Interview mit ersatzkasse magazin. spricht sie über die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte in der Versorgung und wirft einen Blick auf das geplante Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG).

Prof. Dr. Stefanie Joos, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege

Frau Prof. Dr. Joos, Sie sind Mitglied im Sachverständigenrat für Gesundheit und Pflege, der im Februar dieses Jahres neu berufen wurde. Wie bewerten Sie Ihre Berufung unter dem Blickwinkel Ihrer Expertise?

Prof. Dr. Stefanie Joos: Ich bringe in den Sachverständigenrat mein Wissen als Allgemeinmedizinerin und Versorgungsforscherin mit der Schnittstelle klinische Forschung ein, aber natürlich geht es auch darum, die gesamte Gesundheitsversorgung im Blick zu haben. Diese breite systemische Perspektive hat mich schon immer interessiert. Es geht darum, über den Tellerrand der einzelnen Sektoren und des eigenen Fachs hinauszuschauen. Mein Profil wird zudem dadurch erweitert, dass ich mich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, dem ÖGD, auseinandergesetzt habe.

Welchen Einfluss hat der Sachverständigenrat?

Ich schätze den Einfluss als sehr hoch ein. Die Empfehlungen und Gutachten des Sachverständigenrats sind in Gesetzesvorlagen und finalisierten Gesetzen enthalten. Beispiele hierfür sind die aktuellen Gesetzesvorlagen für die Digitalisierungsgesetze und Konzepte zu Primärversorgungszentren, die erstmals im 2014er Gutachten vorgeschlagen wurden, in weiteren Gutachten detailliert und nun im anstehenden Versorgungsgesetz aufgenommen wurden. Der Sachverständigenrat kann eigene Themen setzen. Das Thema Fachkräftesituation, das wir gerade bearbeiten, beruht auf einem Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums.

Stichwort Fachkräfte: Was sollten Hausärztinnen und Hausärzte mitbringen?

Sie sind die ersten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für die Patientinnen und Patienten und benötigen dafür ein breites Wissen vom Bewegungsapparat über internistische Erkrankungen bis hin zur Psychiatrie und Psychosomatik. Dafür braucht es eine gute Ausbildung an den Universitäten und eine gute Weiterbildung, die für diese Versorgungsebene – die Primärversorgung – taugt. Zusätzlich sind kommunikative Fähigkeiten wichtig, einerseits für die Patientinnen und Patienten, andererseits für die vielen Schnittstellen, die es zu den anderen Versorgungsebenen gibt. Hinzukommen Empathie und Organisationstalent, wenn es darum geht, eine Praxis oder ein Zentrum zu führen.

Hausärztinnen und Hausärzte der geburtenstarken Jahrgänge werden in absehbarer in den Ruhestand gehen. Wie lässt sich dem befürchteten Hausärztemangel entgegenwirken?

Ein wichtiger Punkt ist, die Erwartungen der nachrückenden Generation, die beispielsweise gerne im Angestelltenverhältnis arbeiten möchte, zu berücksichtigen. In der Allgemeinmedizin gab es vor rund zehn Jahren noch keine angestellten Hausärztinnen und Hausärzte – jetzt liegt der Anteil bei gut einem Viertel. Wenn es uns gelingt, gut ausgestattete und organisierte Primärversorgungszentren in Deutschland zu etablieren, wie es auch der Entwurf für ein neues Versorgungsgesetz vorsieht, würden diese Zentren den jungen Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit bieten, angestellt oder auch in Teilzeit zu arbeiten. Auch ein Ortswechsel wäre einfacher möglich. Aus dem Ausland wissen wir, dass es angesichts des demografischen Wandels diese Zentren und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen braucht.

Wie kann es gelingen, junge Ärztinnen und Ärzte für die Niederlassung vor allem in ländlichen Regionen zu begeistern?

Wir benötigen beides – sowohl Hausarztsitze in städtischen, insbesondere prekären Gebieten als auch im ländlichen Raum müssen nachbesetzt werden. Aber es stimmt natürlich, dass es mehr Anstrengungen im ländlichen Raum braucht. Das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg fördert diesen Aspekt beispielsweise in dem Sinne, dass die an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteurinnen und Akteure in den Regionen und Landkreisen einbezogen werden und wir gemeinsam Lehrangebote vor Ort anbieten. Die Studierenden sollen die Arbeit vor Ort kennenlernen und sehen, dass es sich um gut organisierte Praxen handelt, in denen anspruchsvolle, leitlinienbasierte Medizin gemacht wird.

Muss Allgemeinmedizin insgesamt ein stärkeres Gewicht bekommen?

Ich betrachte diese Entwicklung als Prozess. Vor rund 25 Jahren hatte nicht einmal ein Drittel der medizinischen Fakultäten in Deutschland einen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Und wenn es keine Lehrstühle gibt, sind die Lehrenden auch nicht auf Augenhöhe mit dem Lehrpersonal anderer Professionen. Zum Glück hat die Politik hier nachgesteuert. Fast überall gibt es jetzt an den medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Allgemeinmedizin. Angesichts der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung zukünftig einen deutlich größeren Anteil an Hausärztinnen und Hausärzten benötigt, muss die Allgemeinmedizin unbedingt noch stärker im Studium und in der Approbationsordnung verankert werden. Daher erwarten wir dringend einen positiven Beschluss zur neuen Änderung der Approbationsordnung, die diese Stärkung enthält.

Wo sehen Sie Nachholbedarf in der hausärztlichen Versorgung?

Eigentlich benötigen die Hausärztinnen und Hausärzte Rahmenbedingungen, die ihnen ermöglichen, das Gelernte auszuführen. Dazu braucht es als Grundlage eine funktionierende Informationsweitergabe. Wenn man von seiner Patientin oder seinem Patienten, die oder der vor einem sitzt, nicht alle Befunde kennt oder nicht einmal weiß, welche anderen Ärztinnen und Ärzte eventuell noch aufgesucht wurden, können die hausärztlichen Kompetenzen nicht richtig zum Tragen kommen. Leider sind die Arztpraxen noch immer nicht digitalisiert. Briefe werden noch mit Fax und Post verschickt, das kostet viel Zeit und ließe sich mit einer elektronischen Patientenakte (ePA) deutlich vereinfachen; und das mit Blick sowohl auf die Beziehungen zu den Patientinnen und Patienten als auch auf die Kooperationen zwischen den verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen wie auch anderen Gesundheitsberufen, beispielsweise der Physiotherapie.

Geht Ihnen die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu schleppend voran?

Zur Digitalisierung wird viel geforscht. Das ist gut. Was aber in den Hintergrund gerät bei dem nachvollziehbaren Hype um ChatGPT und Co., ist die praktische Umsetzung einfacher digitaler Tools wie Telekonsile zwischen Fachärztinnen und Fachärzten. Das Institut für Allgemeinmedizin & Interprofessionelle Versorgung des Universitätsklinikums Tübingen hat eine Studie zu teledermatologischen Konsilen durchgeführt. Diese digitale Möglichkeit eignet sich gerade für Menschen, die im ländlichen Raum wohnen und lange Anfahrtswege oder Wartezeiten bei Hautärztinnen und Hautärzten haben. Wir wissen heute, dass die Befundung von Bildern in 70 Prozent der Fälle genauso gut funktioniert, als würde die Patientin oder der Patient im Behandlungszimmer sitzen. Natürlich kommt es auf die Erkrankung an, deswegen spreche ich hier bewusst nicht von 100 Prozent, aber von einem sehr großen Anteil. Auch die Videosprechstunde gehört zu den einfachen digitalen Tools. Hier kommt es darauf an, was für ein Beratungsanlass vorliegt. Wenn es um Wadenschmerzen und einen Verdacht auf eine Thrombose geht, lässt sich das nicht per Videosprechstunde klären – bei einem einfachen grippalen Infekt aber schon.

Spielt die Digitalisierung im Medizinstudium inzwischen eine größere Rolle?

Ja, allerdings ist das Medizinstudium immer noch stark fachlich auf einzelne Erkrankungen ausgerichtet und weniger auf Fragen der praktischen Versorgung. Bei der Digitalisierung sprechen wir natürlich über ein weites Feld, das von der Videosprechstunde bis zur künstlichen Intelligenz reicht. Neue Tools wie ChatGPT befördern den digitalen Fortschritt ungemein und insofern fordern die Studierenden das berechtigterweise ein.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung im hausärztlichen Bereich?

Wir müssen den ambulanten Bereich grundlegend reformieren. Dabei müssen wir sektorenübergreifend an die Sache herangehen, aber den ambulanten Bereich immer stark mitdenken. Vor allem die Ineffizienz der Versorgung ist ein Problem. Die doppelte Facharztschiene gekoppelt mit der freien Arztwahl führt dazu, dass Patientinnen und Patienten mit Schnupfen zur HNO-Praxis gehen können und mit unkomplizierten Rückenschmerzen zur orthopädischen Praxis. Dies führt zu einem ineffizienten überversorgenden System. Unsere Versorgung wird durch den schlechten Informationsaustausch und das knappe Zeitbudget der Ärztinnen und Ärzte immer ineffizienter. Dabei bietet doch gerade die Primärversorgungsebene die Chance, Patientenwege zu koordinieren. Deshalb müssen wir dahin kommen, dass Hausärztinnen und Hausärzte mit ihren Teams diese Funktion des Gatekeepings übernehmen.

Damit kommen wir zum anstehenden Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG). Ein Ansatz ist die Stärkung der Primärversorgungsebene.

Das begrüße ich sehr. Die hausärztliche Versorgung soll demzufolge als zentrale Schaltstelle im Fokus stehen und Kooperationen mit den einzelnen Facharztgruppen steuern. Die hausärztliche Praxis sollte dabei als Teampraxis verstanden werden, in der weitere Gesundheitsberufe – seien das medizinische Fachangestellte oder weiterqualifizierte medizinische Fachangestellte wie die sogenannten VERAHs und NäPAs – zusammenarbeiten und verschiedene Aufgaben übernehmen. Das ist ja seit Jahren auch die Richtung, in die wir in meinem Institut arbeiten. Wir evaluieren hier verschiedene Ansätze und Konzepte, wie beispielsweise das multiprofessionelle PORT-Gesundheitszentrum auf der Schwäbischen Alb. Und ich habe mir Primärversorgungszentren in Kanada angeschaut, in denen verschiedene Professionen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das war sehr beeindruckend. Welche Professionen man da braucht, entscheidet sich an den Bedarfen der Region, aber beispielsweise auch an der Möglichkeit mit Telekonsilen zu arbeiten.

Der vdek hat alternativ sein Konzept der Regionalen Gesundheitszentren (RGZ) eingebracht, das etwas weiter geht, beispielsweise indem es die stationäre Grundversorgung, etwa ein OP-Zentrum, sowie die Kurzzeitpflege miteinbezieht.

Das Modell der RGZ macht insofern Sinn, dass die Pflege einen deutlich höheren Stellenwert in der Teampraxis und in Primärversorgungszentren bekommt, wo dann Pflegefachpersonen zum Einsatz kommen, die akademisch qualifiziert sind. Dies ist auch im internationalen Raum üblich. Wir arbeiten selbst viel mit der Pflegewissenschaft zusammen und wenn wir Gäste aus dem Ausland empfangen, fragen diese uns häufig, wo denn bei uns in der ambulanten Versorgung die Pflege angesiedelt ist. Ja, es gibt die ambulante Pflege natürlich, aber sie arbeitet zumeist sehr separiert von den hausärztlichen Praxen. Hier liegt ein großes Potenzial für Verbesserungen.

Der Entwurf für das GVSG sieht auch den Aufbau sogenannter Gesundheitskioske in benachteiligten Regionen für vulnerable Gruppen vor. Was halten Sie davon?

Grundsätzlich finde ich die Denkrichtung, dass es niedrigschwellige Beratungsangebote braucht, um auch vulnerable Gruppen zu erreichen, und mehr Präventionsangebote zu machen, gut. Aber ich sehe bei den Gesundheitskiosken das Risiko, eine neue Einrichtung und damit Doppelstrukturen zu schaffen, ohne die Maßnahmen, über die wir eben gesprochen haben, sprich beispielsweise die Verbesserung der Informationsweitergabe durch die ePA, voranzutreiben. Von daher würde ich sehr stark dafür plädieren, solche Aufgaben lieber bei den Primärversorgungszentren oder auch beim ÖGD anzudocken.

Zuletzt noch ein Blick auf die Gesundheitsregionen, von denen im Gesetzesentwurf die Rede ist.

Im Gesetzesentwurf bleibt es relativ offen, was genau damit gemeint ist. Hier heißt es abzuwarten, was genau dahintersteckt. Damit ist es für mich erst einmal nichts Durchschlagendes.

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