Deutschland braucht eine Reform der Akut- und Notfallversorgung: eine bessere Vernetzung von Rettungsdienst, Notaufnahmen und ambulanter Versorgung, die Optimierung der Ersteinschätzung und die prozessuale Zusammenführung der Rufnummern 112 und 116117. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) hat viele Elemente bereits erfolgreich im Einsatz. Damit eine Reform bundesweit erfolgreich ist, fordern der vdek und die KVB einheitliche Regelungen für eine zukunftsfähige Notfallstruktur.
Überfüllte Notaufnahmen, unklare Zuständigkeiten und doppelte Versorgungsstrukturen zeigen, dass das bisherige System der Notfallversorgung seine Grenzen erreicht hat. Die KVB arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Programm „in.SAN“ (indikationsgerechte Steuerung in der Akut- und Notfallversorgung) mit zahlreichen Partnern daran, diese Defizite zu beheben und ein sektorenübergreifendes, digitales und patientenorientiertes Versorgungssystem zu etablieren. Das Kernproblem ist dabei weniger die Unterscheidung zwischen 112 und 116117. Die Erfahrungen der KVB zeigen, dass Patientinnen und Patienten in der Regel sehr gut einschätzen, welche Nummer sie im Notfall wählen. Seit Ende 2023 sind die Systeme in Bayern zudem vollständig digital vernetzt, sodass eine medienbruchfreie Weitergabe von Fällen zwischen Rettungsleitstellen und der 116117 möglich ist. Herausforderungen bestehen eher darin, die erreichten Standards flächendeckend zu verstetigen und digitale Anwendungen konsequent zur Patientensteuerung zu nutzen. Eine aktuelle bayerische Befragung zeigt, dass viele Notaufnahmepatienten die 116117 kennen und sie zunehmend nutzen, wenn sie medizinische Hilfe außerhalb der Regelsprechzeiten benötigen. Aber: Versorgungsangebote wie telemedizinische Beratung oder digitale Ersteinschätzung müssen weiter bekannt gemacht und stärker in den Versorgungsalltag integriert werden.
Folgende „in.SAN“-Projekte verbessern bereits jetzt die ärztliche Versorgung zu Zeiten des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes:
- DispoDigital ist ein digitaler „Tresen“, über den Notaufnahmen und Arztpraxen künftig enger zusammenarbeiten sollen. Patienten können nach einer strukturierten digitalen Ersteinschätzung eigenständig eine bedarfsgerechte Versorgung ansteuern. Damit geht DispoDigital weit über eine reine Weiterleitung hinaus und bildet einen zentralen Baustein für eine moderne, patientenzentrierte Steuerung.
- Mit RTWAkut sollen Notfallsanitäter bei nicht dringlichen Fällen die Möglichkeit erhalten, Patienten ein verbindliches Behandlungsangebot im ambulanten Bereich zu vermitteln und bei entsprechender Indikation auch direkt in eine geeignete Praxis zu bringen, statt zwingend eine Klinik anfahren zu müssen.
- Telemedizinische Angebote wie DocOnLine Bayern ergänzen das System, indem sie außerhalb der Regelsprechzeiten schnelle ärztliche Hilfe per Videosprechstunde ermöglichen.
- Alle Projekte werden wissenschaftlich begleitet, um ihre Wirksamkeit und Übertragbarkeit zu prüfen. Gleichzeitig wird deutlich, dass regionale Pilotprojekte, so erfolgreich sie in Bayern auch sind, die strukturellen Probleme im Bund nicht allein lösen können.
An Ländergrenzen treten weiterhin Abstimmungsprobleme auf. Zuständigkeiten sind uneinheitlich geregelt, technische Schnittstellen fehlen, und die Kostenträgerschaft bei grenzüberschreitenden Einsätzen ist oft unklar. Diese Heterogenität erschwert eine flächendeckende Steuerung und sorgt dafür, dass Patienten je nach Wohnort sehr unterschiedliche Versorgungsrealitäten erleben.
Vor diesem Hintergrund fordern KVB und vdek gemeinsam tiefgreifende strukturelle Reformen, um die Notfallversorgung bundesweit zu vereinheitlichen. Konkret plädieren beide Organisationen für eine prozessuale Zusammenführung von 112 und 116117, die Einführung einer verpflichtenden digitalen Ersteinschätzung, die Errichtung Integrierter Notfallzentren (INZ) mit gemeinsamen Tresen sowie für eine einheitliche Finanzierung der Vorhaltekapazitäten.
Die Politik ist jetzt gefordert, einen Gesetzesrahmen zu schaffen, damit überall in Deutschland gleiche Qualitätsstandards und transparente Verantwortlichkeiten gelten. Zugleich weisen KVB und vdek darauf hin, dass bundeseinheitliche Vorgaben regionale Besonderheiten berücksichtigen müssen. Die Versorgungsstrukturen in Berlin unterscheiden sich erheblich von denen in ländlichen Regionen Bayerns. Es braucht daher flexible, am tatsächlichen Bedarf orientierte Gestaltungsspielräume, um funktionierende regionale Lösungen zu ermöglichen.
Die in Bayern geschaffenen digitalen Strukturen, die enge Kooperation der Leitstellen und die aktive Einbindung telemedizinischer Angebote zeigen, dass integrierte Notfallversorgung schon heute machbar ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Doch die Erfahrungen aus den „in.SAN“-Projekten zeigen zugleich, dass es ohne bundesweite Regelungen keine flächendeckende Lösung geben kann. Unterschiedliche Zuständigkeiten, rechtliche Unsicherheiten und technische Barrieren behindern den Fortschritt. Ein integriertes, digital vernetztes und verbindlich geregeltes Notfallsystem, von der Leitstelle bis zur ambulanten Praxis, ist deshalb die zentrale Voraussetzung, um Patienten überall in Deutschland schnell, sicher und bedarfsgerecht zu versorgen.
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